Freitagspredigt

Was ist Heimat

4. Okt 2019 | Freitagspredigt

Was ist Heimat

4. Okt 2019 | Freitagspredigt

Ist sie nur der Ort, an dem wir unsere Kindheit und Jugend verbracht haben, wo unsere Familie, unsere Freunde leben? Das Land, aus dem unsere Eltern oder Großeltern stammen? Ist Heimat überall dort, wo wir uns zu Hause fühlen? Gibt es so etwas wie eine „spirituelle Heimat“, einen Ort, mit dem wir uns durch unseren Glauben verbunden fühlen? Oder ist Heimat inzwischen ein Kampfbegriff geworden, durch den das Althergebrachte vom Neuen, z. B. religiöse oder ethnische Minderheiten wie Sinti und Roma oder Juden, abgegrenzt wird?

Offensichtlich hat das Thema Heimat mehrere Aspekte: sich zugehörig fühlen und angenommen werden. Menschen werden in einem Land, einer Region, Stadt oder einem Dorf geboren bzw. sind zugezogen. Sie wachsen dort auf, absolvieren eine Ausbildung oder ein Studium, finden eine Arbeit und gründen eine Familie. Sie können weder ihre Ethnie noch ihre Eltern selbst wählen. Sie entwickeln eine emotionale Verbindung zu dem Land, in dem sie geboren sind bzw. leben. Dabei werden Sprache, Kultur und Religion als wichtige Teile der eigenen Identität weiter gepflegt. Sie sind zuallererst Menschen. Erst danach fühlen und verstehen sie sich als Deutsche, aber eben auch als Türken, Araber, Albaner, Bosnier, etc.

Heimat als Thema des Tages der offenen Moschee, der seit 1997 jährlich am 3. Oktober stattfindet, zeigt, welche Beiträge Muslime zu einem friedlichen Miteinander in unserer Gesellschaft leisten. Heutiger Tag bietet Menschen unterschiedlicher Religionen, Kulturen und Ethnien vielfältige Austauschmöglichkeiten. Die Moscheen laden zum gegenseitigen Kennenlernen und zu vorurteilsfreier Begegnung ein.

Muslime, ihr soziales Engagement, ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten ihre sozialen Leistungen und ehrenamtlichen Tätigkeiten, und damit auch ihre Religion, der Islam, sind längst zu einem festen Bestandteil des lebensweltlichen Umfeldes geworden. Aktuelle Debatten zeigen jedoch, dass die transnationalen Identitäten vieler Musliminnen und Muslime noch lange keine Normalität sind. Während es beispielsweise nicht als Problem gesehen wird, gleichzeitig Deutscher und Amerikaner, Deutsche und Französin zu sein, wird die kulturelle Verwurzelung muslimischer Migrantinnen und Migranten immer häufiger als irritierend, ja sogar störend empfunden. Auch und gerade seitens der Politik wird der Heimatbegriff zunehmend mit der geografischen Herkunft, Zugehörigkeit mit ethnischer Abstammung verknüpft. In Teilen der Gesellschaft und Politik hat das einen höchst ausgrenzenden Charakter angenommen. Es wird wieder Eindeutigkeit gefordert.

Wer „Deutscher“ sein will, so scheint es, kann sich nicht gleichzeitig (noch) einem anderen Land bzw. einer Kultur emotional verbunden fühlen. Umgekehrt herrscht mancherorts die Auffassung, dass „Deutsch-Sein“ andere Identitäten ausschließt bzw. dieser unterzuordnen ist. Doch diese Diskussion darf nicht entlang von Religion, Ethnie und Nationalität geführt werden. Ferner darf der Begriff Heimat nicht zur Abgrenzung, Diskriminierung und Beschneidung von Grund- und Menschenrechten verwendet werden.

Heute möchten wir als Muslime das eindimensionale Heimatverständnis um die weitgehend unbekannte islamische Perspektive erweitern. Wir Menschen sind soziale Wesen. Deshalb suchen wir den Austausch und die Gemeinschaft mit anderen Menschen. Innerhalb einer Gemeinschaft werden viele Alltagsaufgaben nicht nur leichter, sie bietet auch Sicherheit und Schutz. Wer allein ist, ist verletzlich. Die erste Gemeinschaft, deren Teil wir sind, ist unsere Familie. Danach kommen Freunde, Nachbarn und Arbeitskollegen. Innerhalb dieser Gemeinschaften werden uns wesentliche Fähigkeiten, Werte und Rituale vermittelt, die unser Handeln prägen und von anderen Mitgliedern geteilt werden. An erster Stelle steht hier die Sprache. Wer sich verständigen kann, hat die Möglichkeit, gemeinschaftlich mit anderen zu handeln, sich einzubringen, mitzugestalten. Sprache schafft ein Gefühl von Zugehörigkeit. „Heimat“ ist etwas, das wir gestalten können.

„Heimisch“ fühlen wir uns in der Regel dort, wo wir uns im Alltagsleben bewegen können, ohne viel darüber nachdenken zu müssen. Zugehörigkeit schafft Vertrautheit und gibt uns Handlungssicherheit. Ganz anders ist es dort, wo wir uns fremd fühlen. Hier sind wir ständig auf der Hut, nicht aus Versehen ins Fettnäpfchen zu treten, weil wir z. B. die Sprache nicht verstehen oder uns bestimmte Normen nicht bekannt sind. Als besonders traumatisch wird dies oft von Menschen erfahren, die ihre Heimat nicht freiwillig verlassen haben, sondern vor Krieg, Verfolgung, Natur- oder Umweltkatastrophen fliehen mussten oder an ihrem Herkunftsort kein Auskommen mehr für sich und ihre Familien finden. Sie erleben, dass ihre Erfahrungen, ihr Wissen und nicht selten auch ihre Erinnerungen, ihre Werte plötzlich nicht mehr einsetzbar sind oder nicht geteilt werden.

Die besten Beispiele für variable Heimaten liefern uns die Propheten. Obwohl sie von Flucht und Vertreibung handeln, sind es gleichzeitig „Erfolgsgeschichten“. Sie zeigen uns, wie es trotz widriger Umstände gelingen kann, an einem anderen als dem Herkunftsort eine neue Heimat zu finden und diesen in einer positiven Weise mitzugestalten.

Ein Beispiel hierfür ist der Propheten Ismael (a) und seiner Mutter Hadschar (r), die aus einem unfruchtbaren Tal mitten in der Wüste einen beliebten Karawanenrastplatz entstehen ließen, wo Mensch und Tier aus der Quelle Zamzam ihren Durst stillen konnten. Hier legten Ismail (a) und sein Vater Abraham (a) später den Grundstein für die Kaaba, die bis heute Muslime aus aller Welt anzieht.

Die Geschichten der Propheten verdeutlichen aber auch, dass es manchmal notwendig sein kann, die Heimat zu verlassen, etwa dann wenn der eigene Glaube und zentrale Werte bedroht sind, oder Menschen aufgrund ihrer Überzeugungen Unrecht widerfährt. So etwa beim Propheten Moses (a). Obwohl er als Ziehsohn des Pharao zunächst eine hohe Stellung und gesellschaftliches Ansehen in Ägypten genießt, kann der Prophet Moses (a) der Unterdrückung seines Volkes nicht tatenlos zusehen. Als seine Versuche, den Herrscher zum Glauben zu bewegen, ungehört bleiben, führt er seine Anhänger auf einem gefahrvollen Weg nach Palästina. Dort finden sie eine neue Heimat und gelangen zur Freiheit.

Auch Jesus (a) befindet sich zeitlebens auf Wanderschaft und stößt mit seiner Botschaft immer wieder auf heftige Ablehnung. Vor allem sein Beispiel zeigt uns, dass die Propheten in einem materiellen Sinne „heimatlos“ waren, gleichzeitig jedoch fest verankert in ihrer „spirituellen Heimat“, dem unerschütterlichen Vertrauen in Gott.

Wie in allen anderen Lebensbereichen ist für Muslime insbesondere das Leben und Handeln des Propheten Muhammad (s) maßgeblich. Während der jahrelangen Verfolgung durch seinen Stamm fand die muslimische Gemeinde gleich zweimal freundliche Aufnahme in einem fremden Land. In Abessinien findet eine Gruppe von geflüchteten Muslimen Zuflucht im Land des christlichen Königs, der ihnen Glaubensfreiheit gewährt. Dafür ist er sogar bereit, die guten Handelsbeziehungen zu den arabischen Kuraysch, dem Stamm des Propheten, aufs Spiel zu setzen. Nach der Hidschra (Auswanderung) 622 n. Chr. nach Medina konnten der Prophet und die Muslime ihren Glauben fortan frei ausüben. Für die Einheimischen bedeutete die Ankunft des Propheten das Ende jahrhundertelanger, erbitterter Stammesfehden. Den lokalen jüdischen Stämmen wurden durch die Verfassung von Medina Religionsfreiheit, Rechtsgleichheit und Sicherheit zugesprochen. Der Prophet rechnete es den Bewohnern Medinas hoch an, dass sie ihm und seiner Gemeinschaft Zuflucht gewährt hatten. Auch in späteren Jahren, als die Muslime mit den Kuraysch Frieden geschlossen hatten, blieb er seiner neuen Heimat treu und wurde schließlich sogar in Medina bestattet. Trotz all dieser positiven Erfahrungen behielt die Heimat des Propheten, die Stadt Mekka, immer einen besonderen Platz in seinem Herzen. Laut einer Überlieferung sagte er einmal: „O Mekka! Du bist bei Allah der beste und beliebteste Ort. Wäre ich nicht aus dir vertrieben worden, hätte ich dich niemals verlassen.“

Als Verkünder der göttlichen Botschaft stehen die Propheten für einen universalen Heimatbegriff. Eine Heimat findet der Gläubige überall dort, wo er seinen Glauben frei praktizieren und seine religiöse Identität bewahren kann. Ein solcher Ort ist nicht an ein bestimmtes Gebiet gebunden: „Und Allahs ist der Westen und der Osten. Daher: Wohin ihr euch auch wendet, dort ist Allahs Angesicht. Siehe, Allah ist allumfassend und wissend.“
Der Islam wendet sich strikt gegen jede Form von Ethnozentrismus und Stammesdenken. Die Betonung des gemeinsamen Bekenntnisses hat dagegen einen integrativen Charakter. Es verbindet Menschen über alle materiellen und immateriellen Grenzen hinweg. Überall dort, wo der Name Gottes genannt wird, dort sind Muslime zuhause.

Alle Menschen sind Geschwister in der Menschlichkeit und sollen uns deshalb mit Güte und Verbundenheit begegnen. Unabhängig vom Herkunftsort kann ein neuer Lebensmittelpunkt auch zur „neuen Heimat“ werden. Es ist also durchaus möglich, zwei oder gar mehrere Heimaten zu haben. Lebt jemand beispielsweise in Penzberg, hat aber Verwandte in Istanbul oder in Sarajevo, ist er oder sie an beiden Orten „beheimatet“.
Heimat als Politikum Aufgrund mobiler Kommunikation und der rasanten Entwicklung des Internets rückt die moderne Welt immer näher zusammen. Menschen rund um den Globus können nahezu in Echtzeit in Kontakt treten, einander begegnen, von- und miteinander lernen. Gleichzeitig beobachten wir in den letzten Jahren – vor allem in Europa – das Erstarken von Gruppen und politischen Bewegungen, die in kulturellem Austausch und Vielfalt eine Bedrohung und sogar Verdrängung des Eigenen zu erkennen glauben.

Die Frage des Dazugehörens wird an nationale, ethnische, religiöse, kulturelle und sprachliche Kriterien gebunden. Einige Gruppen legen dabei eine Definition des „Deutsch-Seins“ zugrunde, in der sich auch viele Deutsche ohne sogenannten „Migrationshintergrund“ nicht wiederfinden können. Die Folgen dieser aggressiven Ab- und Ausgrenzungsrhetorik bemerken wir mittlerweile immer häufiger im täglichen Miteinander. Inzwischen vergeht kaum eine Woche, in der nicht von Übergriffen auf Andersgläubige, Menschen mit anderer Hautfarbe oder Personen und deren Einrichtungen berichtet wird. Man begegnet ihnen mit Misstrauen, Ablehnung und sogar Hass.

„Geh‘ in dein Land zurück!“ – Diese Bemerkung ist oft der Auftakt zu weiterer verbaler und im schlimmsten Fall körperlicher Gewalt. Manche Politiker und Parteien greifen diese Entwicklungen in ihren Wahlprogrammen auf. Dies führt zu weiterem Druck auf Migranten, und macht sie zu Fremdkörpern in einer Gesellschaft, als deren selbstverständlicher Teil sie sich eigentlich begreifen.

Muslime in Deutschland vertreten dagegen ein integratives, auf Austausch und Verständigung ausgerichtetes Verständnis. Die Vielfalt der Kulturen wird nicht als etwas potenziell Bedrohliches angesehen. Muslime verstehen Vielfalt vielmehr als Bereicherung, hinter der sich eine göttliche Weisheit verbirgt. So heißt es im Koran: „O ihr Menschen! Wir erschufen euch aus einem Mann und einer Frau und machten euch zu Völkern und Stämmen, damit ihr einander kennenlernt.“

Die Vielfalt dieses Heimatverständnisses spiegelt sich auch in den Moscheegemeinden wider. Bildungs- und Sportprojekte fördern die Teilhabe und den Austausch mit der Mehrheitsgesellschaft ebenso wie Dialogveranstaltungen und Initiativen, die zum gegenseitigen Kennenlernen einladen. Religiöse Unterweisung, Gesprächskreise und kulturelle Angebote tragen dazu bei, diese wichtigen Aspekte der eigenen Identität zu pflegen.

Wir Muslime in Deutschland stehen für einen unverkrampften Umgang mit dem Thema Heimat, dessen Vielschichtigkeit wir anerkennen, denn für Muslime ist die Erde das Erbe der gesamten Menschheit, unabhängig des kulturellen oder ethnischen Hintergrunds. Es ist unser aller Aufgabe und Verantwortung, sie zu pflegen und zu bewahren. Dabei vergegenwärtigt sich der Gläubige stets, dass sein Aufenthalt in dieser Welt zeitlich begrenzt ist. Am Ende seines Lebens wird er in seine wahre Heimat zurückkehren, oder wie es der Prophet Muhammad (s) ausdrückte: „Im Diesseits bin ich wie ein Reisender, der im Schatten eines Baumes rastet und dann weiterzieht, nachdem er etwas geruht“

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