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IGP Freitagspredigt
Alarmierender Zulauf rassistischer Vorfälle
Freitagspredigt: Alarmierender Zulauf rassistischer Vorfälle
Islamische Gemeinde Penzberg e.V. / Münchner Forum für Islam e.V.
Freitag, 28.06.2024
Meine geehrten Geschwister,
vor 15 Jahren, am 1. Juli 2009, wurde Marwa El-Sherbini, eine junge Frau, Mutter und hingebungsvolle Muslimin, im Dresdner Landgericht brutal ermordet. Marwa El-Sherbini war als Zeugin in einem Berufungsverfahren wegen Beleidigung ins Landgericht Dresden gekommen. Der Angeklagte hatte sie und ihr Kind ein Jahr zuvor auf einem Spielplatz in Dresden rassistisch beleidigt, woraufhin sie Strafanzeige erstattete. Im Gerichtssaal zog er ein Kampfmesser und stach sechzehn Mal auf die 31-jährige Frau und ihren Ehemann ein. Marwa El-Sherbini starb noch im Gerichtssaal vor den Augen ihres dreijährigen Sohnes und ihres Ehemannes. Ihr „Verbrechen“ war, dass sie ein Kopftuch trug und somit nicht in das Weltbild des Täters passte. Dass die Polizeikräfte im Gerichtssaal auf ihren Mann zugingen, anstatt den Täter selbst aufzuhalten, zeigt, wie stark rassistische Stereotype unser Verhalten beeinflussen.
Marwa El-Sherbini war somit nicht nur ein Opfer eines Einzelnen, sondern auch eines versagenden Systems, das sie eigentlich schützen sollte. Sie symbolisiert die Lebensrealität vieler Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, die täglich aufgrund ihrer Religion, ihres Aussehens oder ihrer kulturellen Herkunft Diskriminierung und Gewalt erfahren. Im Prozess gegen ihren Mörder wird die Staatsanwaltschaft erstmals antimuslimischen Rassismus als zentrales Tatmotiv benennen. Der 1. Juli ist, in Gedenken an Marwa El-Sherbini, seit 2015 der Tag gegen antimuslimischen Rassismus in Deutschland.
Antimuslimische Ressentiments nehmen zu und sind in jeder Sphäre des gesellschaftlichen Lebens spürbar. In diesem Zusammenhang möchte ich einen Bericht von CLAIM – Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit vorlesen, der die aktuelle Situation und die weitreichenden Auswirkungen dieser Ressentiments beleuchtet: „Insgesamt 1.926 antimuslimische Vorfälle wurden im Rahmen des zivilgesellschaftlichen Lagebildes antimuslimischer Rassismus für das Jahr 2023 dokumentiert. Das ist ein Anstieg von rund 114 % im Vergleich zum Vorjahr – und eine alarmierende Bilanz. Darunter sind rund 90 Angriffe auf religiöse Einrichtungen wie Moscheen, Friedhöfe und muslimisch markierte Orte. Die registrierten Fälle zeigen: Antimuslimischer Rassismus zieht sich durch alle Lebensbereiche, sei es bei der Wohnungssuche, beim Arztbesuch oder in der Schule. Ein großer Teil der dokumentierten Vorfälle trifft vor allem muslimische Frauen und findet im Bildungsbereich sowie im öffentlichen Raum statt. Frauen mit Kopftuch erfahren alltäglich rassistische Beleidigungen, Diskriminierung und Ablehnung. Insgesamt ist von einer gravierenden Dunkelziffer antimuslimischer Vorfälle auszugehen.“
„Der massive Anstieg antimuslimischer Übergriffe und Diskriminierungen im Jahr 2023 ist mehr als besorgniserregend. Gleichzeitig wird diese Bedrohungslage bisher kaum wahrgenommen. Für Muslim*innen und Menschen, die als solche gelesen werden, sind die Straße, der Bus oder die Moschee längst keine sicheren Orte mehr. Antimuslimischer Rassismus war noch nie so salonfähig wie heute und er kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Die Folgen für Betroffene sind oft gravierend und viele Menschen haben das Gefühl, sie seien der Solidarität nicht würdig,“ sagt Rima Hanano, Leitung von CLAIM.
Ob wir an den Mord an Marwa El-Sherbini, die Terroranschläge in Hanau und beim OEZ in München denken, die Beispiele sind zahlreich und unterstreichen eine Botschaft: Antimuslimischer Rassismus ist längst eine Lebensrealität der Muslime und gehört wie der Antisemitismus zu den größten Gefahren unserer Gesellschaft. Über alle möglichen Ursachen einer solchen Entwicklung zu sprechen, wäre an dieser Stelle nicht möglich. Allerdings möchte ich auf die Verantwortung dreier Instanzen besonders hinweisen: die Politik, die Medien und die Gesellschaft.
Wenn sogar demokratische Politiker auf rechtspopulistische Rhetorik zurückgreifen und Worte wählen, die sich gegen bestimmte Gruppierungen richten und von Ausgrenzung und Hetze geprägt sind, wenn tausend positive Beispiele im muslimischen Alltag von Politikern bewusst ignoriert werden und stattdessen ein negatives Ereignis dramatisch und permanent dargestellt wird, und wenn die Berichterstattung mehr über Islamismus als über Muslime spricht, sind die Konsequenzen einer solchen unreflektierten Rhetorik im Alltag von Musliminnen und Muslimen deutlich spürbar.
Die strukturelle Kriminalisierung von Migranten und die Deklassierung von Muslimen werfen derzeit Schatten über die unbekümmerte Gedankenwelt vieler Menschen. Wie das Sprechen ist auch das Schweigen eine Entscheidung. Besonders das situative Schweigen fordert eine Erklärung, die der Mensch auch dem Schöpfer der Leidtragenden schuldet. Denn es sind nicht nur Stimmen, die gegen Gerechtigkeit vorgehen; oft genug ist es auch das Schweigen, das das Unrecht besonders laut erscheinen lässt. Menschen wissen das. Und Menschen entscheiden sich bewusst dafür, zum Rassismus in den eigenen Reihen zu schweigen oder nicht laut genug dagegen einzutreten. Spätestens hier stellt sich die Frage, welchen Wert und welche Schönheit eine Tugend wie Solidarität noch besitzt, wenn ihr Einsatz von eigenen Interessen abhängt und nicht von den Bedürfnissen der Betroffenen.
Die Politik sollte endlich Muslime nicht als Problem, sondern als Teil der Lösung und als Partner in der Bewahrung unserer demokratischen Werte wahrnehmen. Die Medien, die die Stimmung in unserer Gesellschaft kreieren, sollten häufiger über die positiven Geschichten der Muslime hier im Lande berichten – von Akademikern, Wissenschaftlern, Unternehmern, Sportlern bis hin zu Pflegekräften. Alle leisten einen enormen Beitrag für das Wohl der Gesellschaft, in der sie leben. Schließlich, auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, brauchen wir Menschen, die Zivilcourage als einen ihrer zentralen Werte sehen und nicht tatenlos zuschauen, wenn Menschen aufgrund ihrer Religion, Hautfarbe oder Herkunft misshandelt werden. Es ist dann unsere menschliche, religiöse und bürgerliche Pflicht, uns für den Schutz unserer Mitmenschen einzusetzen.
In diesem Sinne sind die Worte des Propheten Mohammed zu verstehen:
„Hilf deinem Bruder, ob er Unrecht begeht oder unter Unrecht leidet!“
Einer fragte: „O Gesandter Allahs, diesem helfen wir, wenn er unter Unrecht leidet. Aber wie können wir ihm helfen, wenn er selbst Unrecht begeht? Der Prophet erwiderte: „Indem du seine Hände mit der Tatkraft vom Unrecht abhältst!“
(Überliefert von Buchari)
Gleichzeitig leben wir, Gott sei Dank, in einem Rechtsstaat. Jeder und jede, die hier lebt, die Gesetze beachtet und konstruktiven Beitrag für dieses Land leistet, darf sich nicht einschüchtern lassen. Vorfalle von Rassismus und Diskriminierung sollten bei den entsprechenden Instanzen konsequent gemeldet werden. Nur mit einer solchen proaktiven Vorgehensweise leisten wir einen Beitrag zu unserem Rechtsstaat.
Als gläubige Menschen ist der Einsatz für das Gute nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine Aufforderung des Korans:
„Sprich: ‚Das Schlechte und das Gute sind nicht gleich‘, obgleich dich auch die Menge des Schlechten in Erstaunen versetzen mag.“ (5/100)
Das Gute hier steht unter anderem für Empathie, Gerechtigkeit und Frieden. Mit dem Schlechten sind Handlungen und Gedanken wie Hass, Diskriminierung, Ungerechtigkeit und Gewalt gemeint. Hier versucht der Koran uns zu ermutigen, sich für die Werte des Guten einzusetzen, auch wenn das Schlechte zunehmende Tendenzen zeigt und wir manchmal überwältigt werden. Die Kraft unseres Einsatzes für Veränderungen in der Gesellschaft sollten wir nicht unterschätzen. Wir als gläubige Menschen, die sich in der Verpflichtung der Erhaltung des Friedens und Zusammenhalts sehen, werden uns weiterhin dafür einsetzen, dass Gleichberechtigung, Menschenrechte und Meinungsfreiheit prägende Eigenschaften unserer Gesellschaft sind. Gemeinsam tragen wir die Verantwortung, uns gegenseitig für die Werte der Menschlichkeit und Gerechtigkeit einzusetzen. So heißt es im Koran:
„Helft einander zur Güte und Gerechtigkeit, aber helft einander nicht zur Sünde und feindseligem Vorgehen.“ (5/2)
Wie es in diesem Koranvers zum Ausdruck kommt: das Schaffen eines Ambientes, in dem Gerechtigkeit die Norm ist, ist ein kollektives Unternehmen, das nur erfolgreich sein kann, wenn alle seine Mitglieder an einem Strang ziehen.
Liebe Geschwister,
ich glaube, dass jede Religion Glaubenssätze, religiöse Werte und Zitate hat, die die Menschen dazu anhalten, nicht rassistisch zu sein und andere nicht auszugrenzen. Als Muslime tragen wir eine große Verantwortung, diese Werte zu vermitteln: dass wir alle gleich vor Gott sind und niemand über anderen stehen darf. Keine Sprache, keine Ethnie und keine Weltanschauung ist besser als eine andere. Diese Gleichheit und Wertschätzung für alle Menschen sind zentrale Glaubensprinzipien im Islam. Deshalb müssen wir uns immer für diese Werte einsetzen und Rassismus sowie Ausgrenzung entschieden bekämpfen, Seite an Seite mit allen Antirassisten.
Bittgebet
Lieber Gott, wir bitten um Deine Kraft für den Frieden: Hilf uns, Mut zu finden und Zivilcourage zu üben, uns für Mitmenschlichkeit einzusetzen und Menschenverachtung zü bekämpfen, egal von wem sie ausgeht. Wir wissen, dass Du jedem Menschen Würde verliehen hast und den Frieden als Urzustand Deiner Schöpfung vorsiehst. Um diesen Frieden zu bewahren und Vertrauen zu schaffen, müssen wir handeln. Schenke uns daher die Kraft, für eine gerechte, tolerante und offene Gesellschaft zu arbeiten, in der Frieden, Respekt und Gerechtigkeit grundlegende Werte sind. Eine Gesellschaft, in der Unterschiede keine Last, sondern eine Bereicherung für die Menschheit darstellen. Hilf uns, unsere Kinder so zu erziehen, dass sie die Würde des Menschen achten und sie darin unterstützen, Hass, Intoleranz und Rassismus aus ihren Herzen zu vertreiben. Möge unsere Gegenwart besser als unsere Vergangenheit und unsere Zukunft besser als unsere Gegenwart sein.
Amin!