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Integration & Bildung
Gehört der Islam zu Deutschland?
Schafft sich Deutschland dadurch ab?
Vortrag von Imam Benjamin Idriz in der Evangelischen Akademie Tutzing am 19.03.2011
Grüß Gott, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ein Ausspruch des Propheten Muhammad lautet
(فاليعلموا أن في ديننا فسحة إني بعثت بحنيفية سمحة ), in die Sprache unserer Zeit übersetzt: „Sie sollten verstehen, dass in unserer Religion Flexibilität vorherrscht. Zu einer toleranten Glaubensgemeinschaft bin ich gesandt worden.“
Es sind diese und viele weitere Quellen meiner Religion, die mich motivieren, auf andere zuzugehen, auch auf die, die selbst nicht zur Toleranz bereit sind. Toleranz erfordert Mut, und wenn wir den gemeinsam aufbringen, wird die Feigheit der Intoleranz für alle sichtbar. Toleranz ist der höchste Grad von Stärke und Intoleranz das erste Zeichen von Schwäche.
Das sind meine Gründe, weshalb ich heute hier zu Ihnen spreche – trotz der schweren Bedenken, die Ihnen allen ja bekannt geworden sind.
Der Gründer von „Grünhelme“ Rupert Neudeck, nannte das Buch, dem hier nun ein weiteres Mal ein Forum geboten wird, (Zitat) „ein grandios schlechtes Buch, Ausdruck einer verkommenen Buch und Medienkultur in Deutschland. (..) Das Buch ist sehr ärgerlich, weil es so tut, als sei es über unser gemeinsames Land besorgt und biete Lösungen an, ernsthafte und Menschen- und Bürgerfreundliche. Das aber genau tut das Buch nicht.“ (Zitat Ende)
Seitdem das Buch erschienen ist, ist viel Zeit vergeudet worden für Debatten über die Provokationen und xenophobische Thesen, die dem Werk und seinem Autor zu so unglaublich viel Aufmerksamkeit verholfen haben. Hätte man alle diese Energie und Leidenschaft in seriöse Integrationsarbeit investiert, dann wären wir alle ein Stück weiter vorangekommen. Lassen Sie mich deshalb an dieser Stelle abbrechen, davon zu reden, was nicht sein soll. Reden wir darüber, was sein soll.
Meine Damen und Herren, ich sprach gerade davon, dass die Quellen der Religion in die Sprache unserer Zeit übertragen werden müssen.
Ich habe, wie vielen von Ihnen bekannt ist, mich schon häufig und ausführlicher, als das heute hier Platz hat, dafür eingesetzt, dass der Islam auf die Fragen unserer Zeit und unserer Kultur Antworten bieten muss. Eine Religion wäre tot, wenn sie nicht dynamisch die Menschen begleiten würde auf ihren vielen verschiedenen Wegen durch die Zeiten und Kulturen.
Das steht in keinem Widerspruch damit, dass die Quellen der Religion ewig sind; denn sie kommen von Gott. Diejenigen, die aber nicht willens oder nicht fähig sind, aus diesen unveränderlichen Quellen immer wieder neue Antworten zu schöpfen, sind die Totengräber der Religion. Solche Phasen hat es in islamischen Kulturräumen leider viel zu lange gegeben; es gibt sie sogar heute noch. Aber heute nicht anders als in der Vergangenheit hat sich der Islam immer dann als vitale Religion erwiesen, wo sich die Muslime nicht an die Traditionen anderer Kulturräume und vergangener Epochen gekettet haben, sondern neue Antworten für ihre Lebenswirklichkeit suchten und fanden. Nicht nur die islamische Lehre, sondern alle göttlichen Offenbarungen und Lehren und die aus ihnen hervorgegangenen Regeln und Gesetze sind im Laufe der Geschichte nur mit dem Zweck entstanden, die Grundrechte wie Gerechtigkeit unter den Menschen, Frieden, und Freiheit zu erzielen und zu schützen.
Diese historisch bis heute gewachsenen Werte und Rechte sind nicht das Produkt einer bestimmten Gesellschaftsordnung und Philosophie, sondern universelle Werte, die als Allgemeingut der ganzen Menschheit gelten sollten.
Der Islam besitzt einen universellen Charakter und hat die Fähigkeit, sich an jede Epoche und an jeden Ort anzupassen. Natürlich gilt das auch für Deutschland. Nur für ein erstarrtes, extremistisches Islamverständnis, dem die universellen Werte fehlen, gilt dies nicht. Ein solches Islamverständnis ist – das ist für jeden deutlich – nicht integrierbar, nicht einmal im Orient, geschweige denn im Westen. Wenn hier in Europa, hier in Deutschland, eine islamische Theologie etabliert werden soll – und dieser Prozess hat bereits begonnen – so muss meines Erachtens die klassische Theologie zugunsten einer anthropologischen Theologie verabschiedet werden. Das bedeutet den Übergang von einer gottzentrierten Kultur zu einer menschzentrierten. Obwohl der Koran Offenbarung ist, also Gottes Wort, handelt er vom Menschen. Daher hat eine vom Koran abzuleitende Wissenschaft keine Theologie zu sein, die sich auf Gott konzentriert, sondern eher eine Anthropologie, die den Menschen, mit seiner Würde, seinen Rechten, seinen Stärken und Schwächen, seinen Fehlern und Hoffnungen, in die Mitte rückt.
Hier in Europa hat, wie in jeder geographischen Region der Welt, die Kultur die Religion beeinflusst – also auch den Islam, denn der Islam hat schon immer auch zu Europa gehört. Die in Europa entwickelten Werte wie Freiheit, Demokratie, pluralistische Gesellschaft, Gleichberechtigung etc. beeinflussen ganz zwangsläufig das Islamverständnis der europäischen Muslime. Die Muslime sind gefordert, ihr Religionsverständnis neu zu hinterfragen, die Quellen des Glaubens aus der Perspektive der universellen Werte, wie etwa Liebe, Freiheit und Menschenwürde zu betrachten, Vernunft und rationale Kritik überall zuzulassen und sie in den Vordergrund zu rücken.
Deutschland und Europa können den Muslimen günstige Bedingungen bieten, einen neuen Prozess der islamischen Aufklärung einzuleiten.
Die Muslime rufe ich auf, ihre Verbundenheit mit der Demokratie und mit Deutschland im täglichen Leben und in gesellschaftlichem Engagement zu demonstrieren. Wir müssen es nicht nur uns selbst, sondern auch anderen beweisen, dass diese Werte nicht nur den Christen, Juden, den Angehörigen anderer Religionen oder den Atheisten gehören, sondern nicht weniger auch den Muslimen. Muslime müssen Selbstkritik als ein Zeichen der Stärke begreifen und vehement gegen Tabuthemen vorgehen.
Muslime müssen an vorderster Front gegen jede Radikalisierung der Religion vorgehen und religiösen und nationalistischen Fanatismus bekämpfen, der Unterdrückung und Gewalt entschieden entgegentreten, indem wir uns dazu bekennen, dass Terror niemals eine Lösung, aber immer eine Sünde ist.
Gleichzeitig ist mir selbst nur allzu bewusst, dass trotzdem immer wieder Stimmen alle Schuld bei den Muslimen suchen werden, ganz egal, wie sie sich verhalten. Einfach nur, weil wir Muslime sind. Wenn wir uns zu Deutschland bekennen, werfen sie uns „Verschleierung“ vor; tun wir es nicht, dann neigen wir zu Abschottung und Parallelgesellschaften.
Als Europa nach bittersten Erfahrungen Menschenrechte und Grundfreiheiten im Wertesystem und in den Verfassungen verankerte, hatte man Muslime noch nicht im Blick. Heute wollen nicht wenige den Muslimen eben diese Rechte und Werte vorenthalten. Damit geht die europäische Demokratie selbst in Bezug auf ihre Haltung gegenüber den Muslimen durch eine Prüfung.
Alle Demokraten müssen die Mitverantwortung übernehmen, damit die Demokratie diese Prüfung bestehen kann.
Nur im gemeinsamen Schulterschluss kann sich die Demokratie bewähren und gestärkt aus dieser Herausforderung hervorgehen. Aber nehmen wir diese Bedrohung unseres gemeinsamen europäischen Selbstverständnisses durch die Islamophobie überhaupt ernst genug? Nehmen wir sie überhaupt wahr?
Viele von Ihnen wissen gut, dass meine Gemeinde in Penzberg wie auch meine Person – obwohl wir uns seit vielen Jahren in vorbildlicher Weise für Integration einsetzen – oder womöglich eben gerade deshalb! – zur Zielscheibe von Kräften geworden sind, die dem Islam per se extremistische Züge, Gewaltaffinität und so weiter und so fort zuschreiben. Dieses Vorgehen ist für die gemeinsame Zukunft in unserem Land nicht weniger verheerend, wie es die Verbreitung rassistischer Bestseller, konfrontativer Ideologien und Fundamentalismen jeglicher Art sind.
Es gibt ja leider tatsächlich Muslime, die Dschihad mit Gewalt und Terror verwechseln, unter Scharia mittelalterliche Körperstrafen verstehen und einen Konflikt zwischen Islam und sogenannter westlicher Kultur propagieren. Aber es gibt auch Nicht-Muslime, die ihnen in all dem zu folgen bereit sind. Deren Ideologie, die im Europa des 21. Jahrhunderts eine große Minderheit wegen ihrer Religion pauschal diffamiert und ausgrenzt, stellt heute die wohl meistverbreitete Form von Extremismus dar, mit der unsere Gesellschaft insgesamt konfrontiert ist.
Islamfeindliche Agitation nimmt zunehmend alarmierende Dimensionen an; die Gesellschaft und ihre öffentlichen Repräsentanten müssen sich dazu durchringen, diese Form von Extremismus als solchen wahrzunehmen und zu brandmarken.
Deutschland, das Land, dessen Geschichte die Geschichte meiner Kinder sein wird, die sich mit der deutschen Geschichte, mit ihrer Geschichte, auseinanderzusetzen haben und die Verantwortung dafür zu teilen haben, dieses Land hat sich nicht dadurch abgeschafft, weil Teile seiner Bevölkerung eine andere Religion hatten – von anderen Genen möchte ich ganz entschieden nicht sprechen. Sondern es hat einen Zivilisationsbruch von unaussprechlichen Ausmaßen verschuldet, weil zu wenige da waren, die früh genug, entschlossen genug und laut genug gerufen hätten: So nicht!
Ich bin mir bewusst, dass die historische Situation in vielerlei Hinsicht eine ganz andere war. Aber sind Sie sich auch bewusst, dass Muslime heute große Sorge um ihre Zukunft in Deutschland haben, bis hin zu einer Angst vor Gewalttaten, die ja jeden Moment, jeden Tag, geschehen können?
Wie lange wird es dauern, bis sich wieder „geistig verwirrte“ Täter, wie es dann heißen wird, finden werden, die aus den Büchern und aus den Äußerungen mancher Politiker lediglich die aus ihrer Sicht gebotenen Konsequenzen ziehen? Während die einen weiter ihre Buchtantiemen und die anderen ihre Wählerstimmen zusammenzählen.
Die Stimmungsmache der letzten Monate hat uns fassungslos gemacht. Dass es einfacher ist, populistische Parolen in den Raum zu werfen, wer oder was „dazu gehört“ oder nicht dazu gehört, als an seriöser Aufklärung zu arbeiten, als zum tagtäglichen Miteinander beizutragen, wissen wir alle.
Ich will deshalb auch nicht ausführlich all die Beiträge aufzählen, die das Geflecht der Kulturen in Europa von Christen, Juden und Muslimen durch alle Jahrhunderte zum Selbstverständnis der Gegenwart beigesteuert hat.
Dass ein deutscher Innenminister eine Institution unter dem Namen „Deutsche Islam Konferenz“ ins Leben gerufen, und bei ihrer Konstituierung in aller Deutlichkeit das Nötige dazu ausgesprochen hat, spricht für sich und soll hier genügen. Unwiderrufbare Realität spricht der Bundespräsident wenn er sagt: “Der Islam gehört zu Deutschland”. Wer dies leugnet, leugnet die eigens initiierte Deutsche Islam Konferenz, dessen mittleres Wort – Islam – alles aussagt. Solange es Deutschland und auch den Islam geben wird, wird der Islam zu Deutschland gehören und die Menschen dieses Landes sollen von „Deutschland schafft sich ab“ Verschwörungstheorien endlich befreit werden. Natürlich kann man davon träumen – viele tun das wirklich – dass die Muslime wieder verschwinden oder gar nicht erst gekommen wären, dass die Kinder je blonder je bessere Abiturnoten erzielen, unter besten Berufschancen wählen und ihre Eltern unbesorgt und wohlversorgt den Ruhestand genießen – ohne dass andere das Traumbild stören. Realitätsverweigerung bringt aber niemanden voran. Die Geschichte ist unumkehrbar. Muslime leben hier und werden bleiben und – das macht den Befund „noch schlimmer“: die realen Verteilungsprobleme, die Bildungsnot, soziale Ungerechtigkeiten existieren davon unabhängig und müssen bewältigt werden, ohne dass noch so glühender Islamhass dazu irgendetwas beitragen wird.
Meine Quintessenz lautet deshalb: Deutschland bietet fruchtbaren Boden, gerade in Übereinstimmung mit seinem Grundgesetz, eine führende globale Zivilisationspolitik auszustrahlen, wenn sie Vielfalt als Chance ergreift und die gleichberechtigte Teilhabe der Religionen zulässt.
Meine Damen und Herren, wir sind uns alle einig, dass wir die realen Probleme und Herausforderungen nicht verdecken und nicht herunterspielen dürfen, sondern sie klug und überlegt, mutig und entschlossen angehen müssen. Aber das müssen wir gemeinsam tun, und das geschieht nicht, solange sich in einer Gesellschaft eine Stimmung breit macht, oder breit gemacht wird, dass „die anderen“ an allem schuld seien. Der Rechtsruck in unserer Gesellschaft wird ja nicht nur von Muslimen bedauert, sondern auch von vielen nichtmuslimischen Deutschen. Immer mehr von ihnen sind entsetzt, wohin dieses Land treibt, ihre Stimmen vermischen sich zunehmend mit muslimischen oder anderen Deutschen mit so genanntem Migrationshintergrund.
Lassen Sie uns die richtigen Fronten ziehen. Nicht zwischen Ost und West oder Nord und Süd und nicht zwischen Ethnien oder Religionen. Sondern zwischen solchen Menschen auf der einen Seite, die die Achtung vor der Würde des Menschen hochhalten und gemeinsam an zukunftsorientierten Lösungen arbeiten, und solchen, die ihre Religion, ihre Ideologie, ihre Rasse für überlegen halten und nichts zu bieten haben, als Konfrontation und Perspektivlosigkeit.
Ein so definiertes Deutschland wird allen „Abschaffungstendenzen“ Stand halten können.