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Das Abendland ist auch muslimisch

von | 16. Apr 2014 | Publikationen

Alle heute in Europa lebendigen Religionen waren auf diesem Kontinent ursprünglich einmal fremd. Nicht anders als der Islam stammen das Judentum und das Christentum aus dem Osten, und neben diesen hat auch der Islam europäische Identität mit geprägt.

Gläubige der drei abrahamitischen Religionen haben den Werdegang Europas durch die Geschichte hindurch ebenso begleitet und gestaltet, wie die sich entwickelnde Wissenschaft, die Kunst, die Industrie und die Demokratie. Nachdem der Islam auf ganz unterschiedlichen Wegen vom 8. bis 15. Jahrhundert in Andalusien im Westen blühte, ab dem 14. Jahrhundert im Osten auf dem Balkan heimisch wurde und mit dem 20. Jahrhundert auch in Mitteleuropa begonnen hat, Wurzeln zu entwickeln, ist er aus dem Selbstverständnis des Kontinents nicht mehr weg zu denken. Das Fränkische Reich Karls des Großen profitierte von der Interaktion mit dem Kalifen Harun al-Raschid, der in Bagdad das Dar al-Hikmah, das „Haus der Weisheit“ gründete, wo griechische Philosophie ins Arabische übersetzt und verbreitet wurde. Es waren die Werke des Andalusiers Ibn Rushd (1126-98), also eines Europäers, vielen besser bekannt als Averroës, die dem katholischen Theologen und Philosophen Thomas von Aquin (1225-74) Zugang zum Geist des Aristoteles eröffneten.

Anders als infolge der so genannten „Reconquista“ und der Vertreibung der Juden und Muslime aus Spanien, wurde die islamische Kultur auf dem Balkan mit dem Rückzug der Osmanen aus Bosnien nicht gewaltsam ausgelöscht. Die tolerante Herrschaft des katholischen Kaisers Franz Joseph von Österreich-Ungarn (1848-1916) ermöglichte die Bewahrung islamischer Identität und öffnete gleichzeitig neue Wege der Weiterentwicklung und der Integration in einem gemeinsamen Werte- und Herrschaftssystem. Das 1887 in einem prächtigen ost-westlichen Stil erbaute Gebäude Mekteb-i Nuvvab in Sarajevo, das die älteste Fakultät für islamische Wissenschaft in Europa beherbergt, sowie die ebenfalls in jener Zeit geschaffene Institution des Reisu-l-ulema als geistiges Oberhaupt und Repräsentant der Muslime, künden noch heute von der Offenheit und Weitsicht des christlichen Monarchen.

Angesichts der Probleme, die Muslime heute in Europa zu bewältigen haben, vermisst man auf der einen Seite Politiker mit ähnlichen Fähigkeiten wie Aufrichtigkeit und Mut. Auf der anderen Seite fehlen aber auch islamische Visionäre wie seinerzeit zum Beispiel Džemaludin Čaušević (1870-1938), der das Bedürfnis nach einem an Europa orientierten islamischen Selbstverständnis zu fördern und zu erfüllen vermochte. Weder hat damals Franz Joseph „islamische Werte“ zur Disposition gestellt, noch Čaušević „europäische Werte“, sodass Europa und Islam nicht als gegensätzlich zueinander aufgefasst wurden.

Für die muslimischen Regionen Europas waren Austausch und Konvivenz mit Christen und Juden kennzeichnend. In diesen Interaktionen liegt unsere gemeinsame Vergangenheit, gestaltet sich unsere Gegenwart und wird sich unsere Zukunft formieren.

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