Verleihung des Thomas-Dehler-Preises 2025

29. Okt. 2025 | Dialog

Rede von Imam Benjamin Idriz anlässlich der Verleihung des Thomas-Dehler-Preises 2025

Künstlerhaus München – 29. Oktober 2025

igp-Verleihung-Thomas-Dehler-Preis-2025

Verehrte Frau Bundesministerin a.D. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
sehr geehrter Herr Thomas Hacker, Präsident der Thomas-Dehler-Stiftung,

sehr geehrter Herr Staatsminister a.D. Dr. Wolfgang Heubisch,
verehrte Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Religion, Wissenschaft und Kultur, liebe Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter,

 

Salam, schalom und Friede sei mit uns allen.

 

Verehrte Frau Leutheusser-Schnarrenberger,

ich bin tief bewegt von Ihren Worten. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre beeindruckende, herzliche und zugleich tiefgründige Laudatio. Ihre Worte sind für mich eine große Ehre – und eine Ermutigung.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

als ich den Brief der Stiftung erhielt, dass ich in diesem Jahr für den Thomas-Dehler-Preis nominiert bin, war ich überrascht – im schönsten und besten Sinne des Wortes.

Ich hatte mit dieser Auszeichnung nicht gerechnet. Denn wir, die wir uns seit vielen Jahren für Dialog, Verständigung und ein friedliches Miteinander einsetzen – wir, das heißt: praktizierende Muslime, die sich aktiv in die Gesellschaft einbringen – wir sind es nicht gewohnt, mit Preisen zu rechnen. Wir sind es gewohnt, mit Vorurteilen umzugehen, uns zu erklären, uns zu rechtfertigen – oft für Dinge, die wir gar nicht sind. Wir sind damit beschäftigt, Hindernisse zu überwinden, Missverständnisse auszuräumen, Vorwürfe zu entkräften – und trotz mancher Anfeindungen und manchmal fast unerträglichen Drucks weiterzumachen. Nicht aus Erwartung, sondern aus Überzeugung. Nicht um Anerkennung zu erlangen, sondern um Verantwortung zu übernehmen – fī sabīlillāh, auf dem Weg Gottes.

Darum ist dieser Preis für mich eine große, unerwartete und zugleich sehr schöne Überraschung. Ich nehme ihn mit Freude entgegen – aber nicht für mich persönlich.

Heute sind zahlreiche Menschen von weit her gekommen – aus Penzberg, Ulm, Heilbronn und anderen Städten, und einige Freunde sind sogar eigens aus Bosnien angereist –, um diese Freude mit mir zu teilen. Ich danke Ihnen allen von Herzen für Ihre Verbundenheit und Ihre Unterstützung. Ich nehme diesen Preis entgegen im Namen all jener, die diesen Weg mit mir gegangen sind – in Freundschaft, im Vertrauen und im gemeinsamen Glauben an die Kraft des Dialogs.

Allen voran danke ich meiner Frau Nermina und unseren Söhnen – meiner Familie, die all die Jahre mitgetragen, ertragen und beständig gestützt hat. Ohne ihre Geduld, ihre Liebe und ihr Vertrauen wäre dieser Weg nicht möglich gewesen. Ich nehme ihn an im Namen meiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter, Wegbegleiter und treuen Freunde, allen voran Gönül, Vize-Direktorin des Forums und ihrem Ehemann Bayram, dem langjährigen Vorsitzenden der Islamischen Gemeinde Penzberg, und aller Vorstandsmitglieder, im Namen unserer mehr als zweitausend Mitglieder, im Namen des Architekten unserer Moschee, Alen Jasarević, dessen beeindruckende Architektur bereits über 100.000 Besucherinnen und Besucher nach Penzberg geführt hat. Ich nehme ihn an im Namen der unzähligen Ehrenamtlichen, die ihre Zeit, ihre Kraft und ihr Herz in unsere Arbeit investieren.

Glaube muss sich in Schönheit zeigen. Darum spiegelt sich in der Architektur unserer Moschee nicht nur Religion, sondern auch Ästhetik wider. Das Schöne, das uns der Glaube lehrt, soll in allem sichtbar sein – in unseren Gebäuden, Worten und Taten. Dass uns diese Moschee ermöglicht wurde, verdanken wir vielen Unterstützern. Besonders danken möchte ich Scheich Dr. Sultan bin Mohammad Al-Qaismi, dem Herrscher von Sharjah in den Vereinigten Arabischen Emiraten, für seine großzügige Unterstützung.

Diesen heutigen Preis nehme ich daher auch im Namen unserer Moschee und all jener entgegen, die den Bau und die Gemeinschaft ermöglicht haben. Er ist eine Anerkennung für all jene Muslime, die sich Tag für Tag für ein friedliches Zusammenleben einsetzen, die ihre Religion als Teil dieser Gesellschaft leben – als Teil Deutschlands. Er ist ein Zeichen dafür, dass sich Offenheit, Geduld und Beharrlichkeit am Ende lohnen – dass Vertrauen wachsen kann, wo Menschen einander mit aufrichtigem Herzen begegnen.

Ich nehme ihn an im Namen der Penzberger Bürgermeister,  der früheren Hans Mummert, Elke Zehetner und der heutigen Stefan Korpan, die heute hier sind, um diese Freude mit mir zu teilen – denn diese Freude ist zugleich ihre Freude, die Freude einer Stadt, die seit Jahrzehnten zeigt, dass Zusammenleben in Vielfalt möglich ist. Und ich nehme ihn an im Namen all jener, die mich in den letzten drei Jahrzehnten begleitet, gestützt und ermutigt haben – Pfarrerinnen und Pfarrer der katholischen und evangelischen Kirchen, Vertreterinnen und Vertreter der Religionsgemeinschaften in München  und darüber hinaus, Freunde aus der katholischen, evangelischen und jüdischen Gemeinschaft, Rabbiner und Imame, die diesen Weg des Dialogs und der Freundschaft mit mir gegangen sind –  oft leise, aber stets treu und überzeugt. Ich nehme den Preis auch im Namen all jener an, die in schwierigen Zeiten der Verleumdung und der Propaganda zu uns gestanden haben – darunter Menschen, die heute nicht mehr leben, wie Alois Glück, aber auch Persönlichkeiten wie Christian Ude, Landesbischof Johannes Friedrich, Heinrich Bedford-Strohm, Prof. Stefan Jakob Wimmer und viele andere, die Mut gezeigt haben, als es nicht selbstverständlich war.

Ganz besonders erwähnen möchte ich Sie, verehrte Frau Leutheusser-Schnarrenberger – Sie haben sich stets für Gerechtigkeit eingesetzt und oft im Hintergrund für uns gekämpft. Dafür danke ich Ihnen im Namen meiner Gemeinde von Herzen.

Mein Dank gilt auch dem Bayerischen Innenminister Joachim Herrmann, der sich in besonderer Weise für eine konstruktive Zusammenarbeit der Religionsgemeinschaften in Bayern einsetzt. Ebenso danke ich dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der durch seinen Besuch in unserer Moschee in Penzberg ein sichtbares Zeichen der Anerkennung und des Vertrauens in unsere Arbeit gesetzt hat. Und schließlich möchte ich einem Menschen danken, dessen ehrenamtliches Engagement ich ganz besonders schätze: Rechtsanwalt und ehemaliger Bundestagsabgeordneter Hildebrecht Braun. Lieber Hildebrecht, dein unermüdlicher Einsatz für Recht und Gerechtigkeit, deine klare Stimme für die Religionsfreiheit und dein Vertrauen in uns Muslime haben uns über viele Jahre getragen und gestärkt.

Nicht zuletzt möchte ich diesen Preis auch im Namen meiner Kollegen – der Imame – annehmen, von denen einige heute hier sind, um diese Freude mit mir zu teilen. Die Imame leisten einen unverzichtbaren, oft stillen Beitrag für den Frieden in unserer Gesellschaft – einen Beitrag, der leider viel zu selten die Anerkennung erhält, die er verdient.

Dieser Preis gilt also nicht mir allein. Er gilt einer gemeinsamen Idee – einem gemeinsamen Weg.

 

Meine Damen und Herren,

im Juli des vergangenen Jahres stand hier Frau Dr. Mirjam Zadoff, die Leiterin des NS-Dokumentationszentrums, die zugleich Mitglied des Kuratoriums des Münchner Forum für Islam ist. Dass die Stiftung im vergangenen Jahr eine Jüdin geehrt hat, war ein deutliches Signal der Solidarität mit den Jüdinnen und Juden. Und dass sie heute einen Muslim auszeichnet, ist ein ebenso starkes Zeichen an die muslimischen Bürgerinnen und Bürger – ein Signal der Anerkennung und des Vertrauens, zur richtigen Zeit.

Ich gratuliere der Stiftung zu dieser mutigen und richtigen Entscheidung. Damit sendet die Stiftung ein starkes und wichtiges Signal an unsere Gesellschaft: Sie ehrt Menschen, die Brücken bauen, die sich für Dialog, Freiheit und gegenseitigen Respekt einsetzen – und sie lehnt Judenhass und Islamhass gleichermaßen entschieden ab.

Gerade in einer Zeit, in der Spannungen zunehmen und Misstrauen wächst, brauchen wir in unserem Land solche klaren Zeichen der Vernunft und des Mutes.

Die Thomas-Dehler-Stiftung zeigt damit, was unser demokratisches Deutschland stark macht: die Anerkennung des Anderen als gleichwertigen Teil dieser Gesellschaft. Viele Institutionen in unserem Land können sich an dieser Haltung ein Beispiel nehmen. Denn wer Brücken baut, stärkt das Fundament, auf dem wir alle gemeinsam stehen. Sowohl die Stiftung als auch ich haben in den letzten Tagen Anfeindungen erlebt – von rechts wie von links. Doch wir, die in der Mitte dieser Gesellschaft stehen und uns dem Dialog sowie der Völkerverständigung verpflichtet wissen, sind standhaft geblieben.

Ich kann nicht akzeptieren, dass mein Wirken in den letzten drei Jahrzehnten – stets im Dienste des Friedens und der Gemeinschaft – durch Verleumdungen oder mediale Angriffe beschädigt oder infrage gestellt wird. Das ist ein schwerwiegendes Unrecht, dem ich mit aller Entschiedenheit widerspreche. Alle Menschen guten Willens wissen: Wir – ich, meine Gemeinde und meine Wegbegleiter – sind verlässliche Partner des Dialogs. Wer uns jedoch diffamiert, wird auf diese Brücke des Vertrauens und der Zusammenarbeit nicht zählen können.

Heute möchte ich allen, die wirklich wissen wollen, wie ich denke und wofür ich stehe, eine klare Antwort geben.

Zur selben Zeit, als in Deutschland Synagogen brannten und jüdische Mitmenschen brutal verfolgt wurden, standen in Bosnien und Herzegowina viele Muslime auf der Seite der verfolgten Jüdinnen und Juden. Diese Geschichten aus Heimat meiner Frau sind bis heute eine Quelle der Inspiration – erlauben Sie mir, einige davon zu erzählen:

Der islamische Gelehrte und Mufti der Stadt Travnik, Derviš Korkut, rettete während der deutschen Besatzung die jüdische Haggada, ein heiliges Gebetsbuch, indem er sie zwischen den Exemplaren des Korans in einer Moschee versteckte – damit die Soldaten sie nicht fanden und vernichteten. Ebenso bewegend ist die Geschichte des muslimischen Ehepaares Mustafa und Zejneba Hardaga, die ihr eigenes Leben riskierten, um ihre jüdischen Nachbarn Josef und Rifka Kabiljo vor der Gestapo zu schützen. Zejneba Hardaga verbarg unter ihrem Schleier den Davidstern ihrer Freundin Rifka – ein stilles, aber unübersehbares Zeichen von Menschlichkeit, Mut und Geschwisterlichkeit. Und die Geschichte ging weiter: Als Jahrzehnte später in Bosnien der Krieg ausbrach, waren es die Nachkommen der Familie Kabiljo, die Zejneba Hardaga und ihre Familie nach Israel holten und ihr das Leben retteten.

Diese Geschichten zeigen: Unsere religiösen Wurzeln sind tief miteinander verbunden durch gemeinsame Werte – Mut, Mitgefühl, Solidarität und die Verpflichtung, Unrecht zu verhindern.

Juden und Muslime in Europa brauchen einander. Historisch waren sie auf gegenseitige Hilfe angewiesen: Bosnien, Albanien und die Türkei boten jüdischen Vertriebenen Schutz und Heimat. Und in den Kriegsjahren in Bosnien leisteten jüdische Gemeinden humanitäre Hilfe für muslimische Familien.

Das ist das wahre Gesicht unserer Religionen: nicht Spaltung und politische Instrumentalisierung, sondern gelebte Menschlichkeit.

Wir Muslime teilen ein ähnliches Schicksal in Europa: Wir erleben Feindschaft, Ausgrenzung und Diskriminierung durch destruktive Kräfte. Es liegt daher im gemeinsamen Interesse von Juden und Muslimen, sich gegenseitig zu unterstützen.

Und deshalb sage ich heute: In einer Zeit, in der manche Jüdinnen und Juden sich wieder fürchten, eine Kippa zu tragen oder den Davidstern zu zeigen, sind Menschen wie Derviš Korkut und Zejneba Hardaga für uns Muslime Vorbilder. Sie stehen in einer Linie mit unseren Vorfahren – mit den Muslimen des Osmanischen Reiches und mit dem Propheten Muhammad, der die Juden seiner Zeit anerkannte und ihnen Schutz gewährte.

Das sogenannte „Abkommen von Medina“ des  Propheten Muhammad aus dem Jahr 622 n. Chr. und die „Resolution von Sarajevo“ aus dem Jahr 1941 sind – in ihrem jeweiligen historischen Kontext – Zeugnisse gelebten Schutzes, des Einsatzes für Religionsfreiheit und gegenseitiger Verantwortung. Vor dem Hintergrund dieser Traditionen und angesichts der stockenden Dialoge heute erlaube ich mir, eine neue Initiative anzustoßen: eine gemeinsame Resolution oder ein Abkommen, in dem sich Jüdinnen und Juden sowie Musliminnen und Muslime in Deutschland gegenseitig verpflichten, einander in ihren Rechten und in ihrem Leben zu schützen, jeden Ausdruck von Judenhass und Islamhass entschieden zu bekämpfen, und jeden Angriff auf die eine Gemeinschaft als Angriff auf die andere zu verstehen

Wir sollten gemeinsam für gegenseitige Wertschätzung eintreten – für Vertrauen, Versöhnung und Zusammenarbeit.

Dieses Abkommen könnte den Namen. „Münchner Abkommen für jüdisch-muslimische Zusammenarbeit“ tragen – ein Symbol der Verantwortung und der Hoffnung, die von dieser Stadt ausgeht.

Für uns Muslime gilt: Judenhass ist ein absolutes No-Go. Kippa, Davidstern, Tora oder Synagoge – sie sind für uns ebenso heilig und schützenswert wie das Kopftuch, der Koran und die Moschee.

Kein jüdisches und kein muslimisches Leben darf in unserem Land jemals wieder in Frage gestellt werden. Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus müssen gleichermaßen entschieden abgelehnt werden.

 

Meine Damen und Herren,

Freiheit und Würde ruhen auf einem Fundament, das gleichermaßen zur Philosophie der Thomas-Dehler-Stiftung, zur Essenz der Demokratie und zur DNA des Islam gehört. In einer Zeit, in der Menschen sich gegenseitig zu Herren über andere machten, trat der Prophet des Islam mit einem revolutionären Ruf auf:

وَلَا يَتَّخِذَ بَعْضُنَا بَعْضًا أَرْبَابًا مِّن دُونِ اللَّهِ

„O ihr Juden und Christen…

lasst uns einander nicht zu Herren neben Gott machen.“ (Koran, 3:64)

 

وَمَا أَدْرَاكَ مَا الْعَقَبَةُ فَكُّ رَقَبَةٍ

„Was lässt dich wissen, was „der steile Weg“ ist?

Es ist die Befreiung aus jeglicher Knechtschaft.“ (Koran, 90:12–13)

Der Islam kam, um den Menschen von seinen Ketten zu befreien – von geistiger, sozialer und politischer Unterdrückung. Mit dieser befreienden Botschaft steht der Islam in einer Linie mit der universellen Sehnsucht nach Freiheit, die allen großen ethischen und demokratischen Traditionen innewohnt.

Der zweite Kalif, ʿUmar brachte diese Philosophie des Korans in einem Satz auf den Punkt: „Wie könnt ihr Menschen zu Sklaven machen, wo doch ihre Mütter sie frei geboren haben?“ Jahrhunderte später fasste Jean-Jacques Rousseau denselben Gedanken in die Worte: „Der Mensch ist frei geboren, und doch liegt er überall in Ketten.“

Auch im 21. Jahrhundert – auch in einer Demokratie – liegt der Mensch nicht selten in unsichtbaren Ketten: Ketten der Angst, der Erwartung, der Anpassung. Diese Ketten sind nicht aus Eisen – aber sie fesseln die Seele. Sie rauben dem Menschen den Mut, authentisch zu sein, Verantwortung zu übernehmen, aufrecht und frei zu leben.

Ich persönlich spüre es, wenn ich nicht in das vorgegebene Schema passe, wenn ich anders denke – werde ich schnell verdächtigt oder gar diffamiert, als „Antisemit“ oder „Islamist“ abgestempelt. Und ich bin nicht der Einzige, der diese Erfahrung macht. Mir wurden oft Steine in den Weg gelegt, Hetze und Verleumdungen verbreitet, um meine Stimme zu schwächen und Anerkennung zu verhindern. Manchmal frage ich mich, in welche Richtung sich unser Land entwickelt. Sind wir auf dem Weg, die Freiheit und Würde des Einzelnen zu schützen, oder riskieren wir, dass Angst, Verdächtigungen und Vorurteile unsere Gesellschaft lähmen?

Die Demokratie lebt von Kontroversen; ich bin jederzeit bereit für eine sachliche Diskussion. Verleumdungen und Unterstellungen jedoch sind völlig inakzeptabel. Und die Würde des Menschen – so sagt unser Grundgesetz – ist unantastbar. Für diese Würde haben unsere Vorfahren ihr Leben gegeben, damit ihre Kinder in Freiheit leben können. Diese Würde ist die Grundlage jeder Freiheit. In dieser Freiheit liegt unsere Größe – aber auch unsere Prüfung.

 

Meine Damen und Herren,

Deutschland hat mein Leben und meine Denkweise nachhaltig geprägt. Ich bin dankbar für dieses Land, für seine Menschen und für die Unterstützung, die mir bei meinem Wirken zuteilwurde. Wenn wir in Penzberg und darüberhinaus etwas erreicht haben, dann verdanken wir das der Freiheit – der Freiheit, Themen selbst zu wählen, der Freiheit, unsere Arbeit eigenständig zu gestalten, der Freiheit, zu denken – ohne Angst, von Dogmatikern als Abtrünnige abgestempelt zu werden.

Freiheit bedeutet für mich, die Kraft der Vernunft kreativ, mutig und verantwortungsvoll zu nutzen. Ich habe den Glauben stets von Ideologien und fremden Interessen befreit.  Ich habe mich geweigert, den Islam für politische Zwecke zu instrumentalisieren.  Meine theologischen Überlegungen sind frei von Dogmen – kritisch, reflektiert, eigenständig. Wer meine Werke liest, mir begegnet und unsere Gemeinde besucht,  kann mich und mein Wirken gut einordnen. Diejenigen jedoch, die sich nicht die Mühe machen, sich ein objektives Bild von mir und unserer Gemeinde zu verschaffen, konstruieren Geschichten über Dritte und versuchen, mich in ideologische Ecken zu drängen, in die ich nicht gehöre.

Doch ich stehe hier – unbeirrt, klar in meinen Überzeugungen und unerschütterlich im Dienst des Landes, des Friedens und der Vernunft.

In meinem Wirken habe ich meine theologischen Überzeugungen nicht nur vermittelt –  ich habe versucht, sie zu leben. Wer sehen möchte, wie Überzeugung praktisch gelebt wird,  ist in unserer Moschee in Penzberg jederzeit herzlich willkommen.

Wenn wir als Imame von der ersten Moschee des Propheten berichten – einem Ort, an dem Männer und Frauen im selben Raum beteten, ohne Vorhänge, ohne Barrieren, in einem Geist des Vertrauens, der Würde und der Spiritualität – und dann sehen, dass 1.400 Jahre später, hier in Deutschland, mancherorts Mauern zwischen ihnen errichtet werden, und das sogar mit Zustimmung mancher Theologen, dann müssen wir ehrlich sagen: Das ist ein Islam, der nicht nur diesem Land fremd ist, sondern auch sich selbst. Um dieser Entfremdung entgegenzuwirken, haben wir Maßnahmen ergriffen, die Diskriminierung von Frauen in der Moschee zu beenden. Ich bin besonders stolz darauf, dass heute Frauen an der Spitze unseres Vorstandes stehen. Ich wollte zeigen: Tradition und Innovation sind keine Gegensätze – sie sind zwei Flügel derselben Wahrheit.

Ein Islam, der aus seiner Quelle verstanden wird, bedeutet nicht Stillstand, sondern Bewegung – nicht Rückzug, sondern Begegnung

 

Meine Damen und Herren,

ich begann meine Arbeit in Deutschland in einer Zeit, in der die meisten Moscheen ethnisch geprägt waren – in einer Zeit, in der strukturelle Ausgrenzung, bewusst oder unbewusst, alltäglich war. Ich habe die Unterschiede von Nationalitäten, Sprachen und Glaubensrichtungen immer als Bereicherung empfunden – nicht als Problem, das man verwalten muss, sondern als Geschenk, das man würdigen darf. In unserer Gemeinde hat jeder seinen Platz – unabhängig von Herkunft, Denkweise oder Geschlecht.

Wir haben ein neues Rezept entwickelt: Spiritualität und menschliche Werte stehen über unserer Vielfalt. Alle Unterschiede verschmelzen in diesen Werten, denn der Mensch selbst ist das verbindende Medium. Menschen verschiedenster Herkunft tragen Verantwortung, gestalten, führen – so, wie es dem Geist des Islam entspricht.

Was uns eint, ist dieses Land – Deutschland – seine demokratischen Werte, sein Grundgesetz und unsere gemeinsame Zukunft im Hier und Jetzt. Darüber hinaus gilt: Die Sprache des Landes kann auch die Sprache des Glaubens sein. Unsere Predigten und Vorträge finden auf Deutsch statt. Auch unser islamischer Religionsunterricht wird auf Deutsch gehalten – mit Lehrerinnen und Lehrern, die hier sozialisiert sind, mit deutschen Lehrmaterialien und mit Werten, die Integration bei Kindern und Jugendlichen fördern. Und wissen Sie, was wir unseren Kindern beibringen? Menschen zu lieben, Judentum, Christentum und Islam gleichermaßen zu schätzen und keinen Hass gegen andere in ihren Herzen zu tragen. Und das tun wir seit 30 Jahren – ohne einen Cent staatlicher Unterstützung.

Sprache, Offenheit und Lernbereitschaft sind die Schlüssel des Dialogs.

 

Meine Damen und Herren,

von Beginn an war mir der interreligiöse Dialog ein zentrales Anliegen. Wir haben Bischöfe, Rabbiner, Priester, Imame, Wissenschaftler, Staatsmänner, Diplomaten, Künstler und Sportler empfangen – und ihnen allen einen Platz in unserer Moschee gegeben.

Vor drei Wochen hielt der Regionalbischof Prieto Peral nach dem Freitagsgebet eine Rede in unserer Moschee – ein Zeichen, das früher undenkbar schien, heute aber selbstverständlich sein sollte. Und heute, am selben Tag, an dem im Vatikan eine Gedenkfeier zur Verabschiedung der Konzilserklärung Nostra aetate vor genau 60 Jahren stattfand, waren auch die Muftis von Kroatien und Slowenien anwesend. Der Papst betonte: „Vor 60 Jahren wurde ein Samenkorn der Hoffnung für den Dialog gesät, das heute Früchte der Verständigung, Freundschaft und Zusammenarbeit trägt.“

Penzberg ist zu einem Modell des gelebten Miteinanders geworden – ganz im Geist von Nostra aetate ein Ort, an dem Menschen auf Augenhöhe leben, lernen, feiern und glauben. Dieses Bild des wachsenden Baums der Verständigung zeigt eindrucksvoll, dass der interreligiöse Dialog lebendig, wirksam und heute wichtiger denn je ist.

Ich habe nie gezögert, auch zu gesellschaftlichen und politischen Themen klar Stellung zu beziehen – ob gegen Gewalt, Terror oder Krieg.

 

Meine Damen und Herren,

ich habe jede Form von Extremismus scharf verurteilt und immer wieder Religionsvertreter dazu aufgerufen, eine gemeinsame moralische Haltung einzunehmen. Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober habe ich diese Tat klar verurteilt. Das war meine moralische Pflicht.

Was hätten Sie anderes von mir erwartet?  Schweigen, während unschuldige Menschen getötet und verschleppt werden?  Schweigen wäre Verrat an der Menschlichkeit gewesen.

Gleichzeitig habe ich das Vorgehen der israelischen Regierung kritisiert. Viele Menschen weltweit teilen diese Einschätzung. Was hätte ich sonst tun sollen – schweigen, während tausende unschuldige Menschen, darunter viele Kinder, sterben oder unter Hunger leiden?

Ich möchte nicht in die Geschichte eingehen, indem ich angesichts von Verbrechen gegen die Menschlichkeit schweige. Ich hätte mir gewünscht, dass auch manche Religionsgemeinschaften den Mut finden, auch das Leid der Menschen in Gaza ansprechen und das Vorgehen der Regierung offen zu verurteilen. Denn nur, wenn wir den Schmerz des anderen anerkennen, kann Frieden beginnen.

Wer nur mit einem Auge sieht und das Leid der anderen Seite ignoriert, wird niemals echten Frieden oder dauerhafte Gerechtigkeit schaffen – er nährt nur weiteren Konflikt.

Ich habe niemals die Existenz Israels infrage gestellt – ich habe ausschließlich das Handeln der jeweiligen Regierung kritisiert. Mich als „Israelhasser“ zu diffamieren, dient nicht der sachlichen Auseinandersetzung, sondern der Diskreditierung eines religiösen Autorität und Dialogpartners. Wer mich kennt, weiß: Hass ist mir fremd. In meinem Herzen gibt es keinen Platz für Hass. Was ich verabscheue, sind Taten – Hetze gegen Juden, Gewalt, Terror, Krieg und Menschenverachtung – ebenso wie Besatzung und die Demütigung des palästinensischen Volkes.

Nicht Menschen, nicht Länder, sondern das, was Unrecht und Leid bringt.

 

Meine Damen und Herren,

nach dem 7. Oktober habe ich im Namen der Muslime ein Friedensgebet initiiert.

Trotz Absagen anderer habe ich den Dialog in den letzten zwei Jahren nie abgebrochen – im Gegenteil, ich habe ihn bewusst fortgesetzt. Ich habe religiöse Würdenträger aufgerufen, gemeinsam unsere Stimme für den Frieden zu erheben.

Ich habe mich für die Freilassung aller Geiseln eingesetzt – ebenso für eine gerechte Lösung des Konflikts und die Umsetzung einer Zwei-Staaten-Lösung.

Mitten im Krieg habe ich Synagogen besucht und das Gespräch mit Oberrabbinern gesucht – um Brücken zu bauen, nicht Mauern zu errichten.

Ich habe die Europäische Rabbinerkonferenz in München besucht.

Ich habe das Festival ausARTen im Münchner Forum für Islam unterstützt,  das in enger Zusammenarbeit mit Jüdinnen und Juden stattfindet.

Ich habe den jüdischen Stadtrat Marian Offman bei seiner Initiative zur Charta für Völkerverständigung, gegen Antisemitismus und gegen Islamfeindlichkeit unterstützt. Für das herausragende Engagement von Marian Offman und der Bürgermeisterin Verena Dietl möchte ich mich an dieser Stelle ganz besonders herzlich bedanken. Am 23. November werden wir gemeinsam diese Charta vorstellen und diskutieren – zusammen mit Rabbinern und anderen Religionsvertretern.

Und heute bringe ich eine neue Initiative auf den Weg – für ein „Münchner Abkommen für jüdisch-muslimische Zusammenarbeit“, wie ich es zu Beginn meiner Rede angekündigt habe.

Schon vor dem 7. Oktober habe ich in meinen Publikationen – unter anderem in meinem Buch „Wie verstehen Sie den Koran, Herr Imam?“ – die Genozide an Juden in der Shoah, den Genozid von Srebrenica und alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit verabscheut.

Wer all diese Bemühungen ignoriert, zeigt sein wahres Gesicht.
Diese Hetze und Verleumdungen, die ich und viele Muslime erleben, sind Ausdruck eines tief sitzenden antimuslimischen Rassismus.

Wer mich – und mit mir viele friedliebende Muslime – in eine antisemitische Ecke drängen will, verdreht Tatsachen und Geschichte. Damit wird die öffentliche Debatte in eine völlig falsche Richtung gelenkt. Dem werden wir mit aller Deutlichkeit entgegentreten –  denn das ist für uns inakzeptabel.

 

Meine Damen und Herren,

meine Hand ist jedem ausgestreckt, der sich für Gerechtigkeit, Frieden und Dialog auf Augenhöhe einsetzt – gleich welcher Religion oder Herkunft.

Ich achte auf meine Sprache – denn Worte können heilen oder verletzen. Selbst gegenüber jenen, die uns hassen, dulde ich keinen Hass, keine Hetze, keine Feindschaft.

Der Koran sagt in Sure 41, Vers 34: „Wehre das Böse mit dem Guten ab – denn wer das tut, wird den, der ihm feind war, wie einen innigen Freund finden.“

Das ist kein diplomatischer Satz – das ist ein göttliches Gebot der Menschlichkeit.

 

Meine Damen und Herren,

Thomas Dehler kämpfte nach der Nazi-Diktatur in einer Zeit, in der die deutsche Demokratie jung, verletzlich und gefährdet war. Er setzte sich ein für Rechtsstaatlichkeit, Mut zur Freiheit und gegen Ausgrenzung – ob politisch oder religiös.

Heute stehen wir wieder an einer Wegscheide. Die Extreme wachsen – links wie rechts. Zwischen Angst und Wut droht die Mitte zu erlahmen. Doch Friede, meine Damen und Herren, lebt nicht vom Schweigen und von Vorurteilen, sondern vom Gespräch und vom Respekt.

Dialog ist kein Luxus – Dialog ist Überlebensbedingung. Er ist das Werkzeug der Vernunft, die Waffe des Friedens, die Sprache der Menschlichkeit.

Dialog ist kein Zeichen der Schwäche, sondern der Zivilisation. Denn wer dem anderen zuhört, nimmt ihm nicht die Wahrheit – er gibt ihm Würde.

Wir müssen wieder lernen, einander zu widersprechen, ohne einander zu verachten. Das ist wahre Demokratie. Das ist gelebte Religion.

 

Zum Schluss, meine Damen und Herren:

Europa braucht den Islam – und der Islam braucht Europa. Nicht, um sich gegenseitig zu vereinnahmen, sondern um voneinander zu lernen.

Europa hat der Welt die Idee der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geschenkt, die Würde des Individuums, die Kraft der Vernunft.

Der Islam hat der Welt die Idee der Vielfalt in Einheit geschenkt, die Verantwortung des Menschen, Gutes zu tun, die Liebe zur Gerechtigkeit. Wenn diese beiden Ströme sich begegnen – die Vernunft Europas und die Spiritualität des Islam – entsteht ein Licht, das weit über unsere Grenzen hinausleuchtet. Ein Licht, das sagt: Wir können verschieden glauben und dennoch gemeinsam handeln. Wir können unterschiedliche Wege gehen und doch dasselbe Ziel haben: die Würde des Menschen zu bewahren.

 

Was bedeutet Integration?

Integration ist kein Akt der Anpassung, sondern der Begegnung. Es geht nicht darum, dass der eine verschwindet und der andere bleibt. Es geht darum, dass beide sich verwandeln – durch das, was sie voneinander lernen.

Muslime sollen in diesem Land nicht nur Gäste sein, sondern Gastgeber – Gastgeber des Friedens, Gastgeber der Verantwortung.

Wir haben die Pflicht, nicht Opfer der Geschichte zu bleiben, sondern Gestalter der Zukunft zu werden. Und wir haben die Chance, aus der Religion keine Grenze, sondern einen Kompass zu machen.

Ich stehe heute hier als Sohn einer in Nord-Mazedonien geborenen türkisch-albanischen Familie – geprägt vom Glauben, verwurzelt in Europa, lebend in Deutschland. Ich danke meiner Familie, meiner Frau, meinen Kindern, meiner Gemeinde und meinen Freunden. Ich danke allen, die geglaubt haben, dass Verständigung möglich ist – auch wenn der Wind manchmal von vorne kam.

Dieser Preis erinnert mich daran, dass Freiheit und Glaube nicht selbstverständlich sind, sondern tägliche Entscheidungen.

Am Ende, meine Damen und Herren, zählt nicht, wie laut unsere Stimmen waren, sondern ob wir geschwiegen haben, wenn Menschenrechte verletzt wurden.

Am Ende zählt nicht, wie groß unsere Taten waren, sondern wie tief sie berührt haben. Ich nehme diesen Preis nicht als Abschluss, sondern als Auftrag. Er erinnert mich daran, dass der Weg des Dialogs, der Vernunft und des gegenseitigen Respekts nicht immer der einfachste, aber immer der richtige Weg ist.

Möge dieser Preis uns gemeinsam daran erinnern, dass Dialog kein Ziel ist, sondern ein fortwährender Weg – ein Weg, den wir miteinander weitergehen sollten.

Lasst uns gemeinsam wirken, damit Freiheit keine Angst bedeutet, Religion nicht spaltet und Menschlichkeit nie verloren geht. Denn am Ende werden wir nicht gefragt, welche Meinung wir vertreten haben, sondern wie sehr wir geachtet, geholfen und verstanden haben.

 

Vielen Dank.

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