Buchrezension
Der Koran und die Frauen
Rezension von Ursula Schwager: "Der Koran und die Frauen"
Rezension
Benjamin Idriz: Der Koran und die Frauen
Ein Imam erklärt vergessene Seiten des Islam
„Renaissance nicht Reformation“ – stellte Imam Idriz als Motto an den Anfang seiner Buchvorstellung in Penzberg. Ein Aufruf genauer hinzusehen für diejenigen, die Methode und Inhalt seines Buches beim ersten Blick als Modernisierung („Reformation“) des Islam auffassen. Idriz schreibt als gläubiger Imam. Kein wahrheitsliebender Mensch will seinen Glauben reformieren. Denn er würde nicht glauben, wenn dieser Glauben nicht schon wahrheitsfähig wäre. Renaissance des Glaubens – als eine Wiederbelebung im Rückgang auf den Koran und die Anfänge des Islam – das ist es, was Imam Idriz in seinem Buch „Der Koran und die Frauen“ anstrebt. Dafür braucht es Vernunft – die unterscheiden lässt zwischen dem, was dem Glauben dient, und dem, was keine Frage des Glaubens ist, und dem, was der Wahrheit des Glaubens entgegensteht.
Reformiert wird das Leben. Imam Idriz hält an der Abgeschlossenheit der Offenbarung im Koran fest. Der Koran formuliere im Kontext seiner Zeit die Grundprinzipien (Monotheismus und Gerechtigkeit, vgl. S. 50) und das Ziel des Reformprozesses: Jeder Mensch, Mann und Frau (und Kind?), soll in Recht, Freiheit und Würde leben (vgl. ebd.). Es braucht gesunden Menschenverstand und Phantasie, um zu sehen, welche Lebensweise heute diesen „Geist des Koran“ (vgl. 117) verwirklicht. „Wenn die Vernunft aufhört, über den Sinn des Textes nachzudenken, verliert der Text seinen Wert.“ (S. 49)
Imam Idriz wagt es, in aller Klarheit die Frage zu stellen, welcher Umgang mit Frauen Ausdruck wahrhaftigen Glaubens ist. Er erläutert Koranverse in ihrem historischen Kontext, analysiert die arabische Sprache und bezieht sich auf als gesichert geltende Quellen zu Lebensweise und Rede des Propheten Mohammed. Dabei kommt Imam Idriz zu dem Ergebnis: Es geht im Islam um Achtung der Frau als gleichberechtigt und „Ruhe, Liebe und Barmherzigkeit“ in der Partnerschaft. Sein Ziel ist es, die frauenfeindlichen Verhaltensweisen (z.B. Ausgrenzung bei Gottesdiensten in der Moschee, Abwertung der Frau als schädlich für Männer, Überheblichkeit bis hin zu Gewalt gegen Frauen), nicht zu leugnen oder zu verharmlosen, sondern zu überwinden. Idriz zeigt auf, dass die Botschaft des Koran gerade in der Überwindung der Diskriminierung besteht. Nach dem Tod des Propheten hätten sich die alten Verhaltensweisen wieder durchgesetzt und wurden in späteren Überlieferungen dokumentiert (vgl. S. 109 ff.). Die Renaissance des Glaubens, wie er im Koran geschrieben und zur Zeit des Propheten gelebt wird, ist die Quelle der Wiederbelebung der Reform, die im Koran angelegt ist.
Wie lesen Menschen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau für eine Errungenschaft der eigenen Kultur halten, ein solches Buch? Mit dem Blick der Skepsis („Ob das wirklich im Koran angelegt ist?“) oder in herablassendem Wohlwollen („Schön, dass es Strömungen im Islam gibt, die sich „jetzt auch“ auf den Weg zu einer liberalen und gleichberechtigten Gesellschaft machen“)?
Wie werden zum Beispiel Idriz Ausführungen zu den Koranversen über Polygamie und Monogamie gelesen? Nach Idriz geht es hier nicht um alternative Lebensformen, die nach Belieben zu wählen sind. Selbst die Regeln für achtsam gelebte Polygamie zeigen, dass Monogamie als Ziel angestrebt ist. Sind derartige Überlegungen aus Sicht einer Gesellschaft, in der nur Monogamie erlaubt ist, überholt?
Spannend für einen echten Dialog wird das Buch von Imam Idriz dann, wenn sich eine christlich geprägte, säkulare Gesellschaft wahrhaftig fragt, wie viel Achtung in dem ist, was z.B. unter dem Namen der Monogamie und der Gleichberechtigung von Mann und Frau gelebt wird.
Welche Rolle spielt Monogamie in unserer Gesellschaft?
Man verzichtet darauf zu heiraten, um Gebundenheit zu genießen und im Zweifelsfall guten Gewissens leugnen zu können? Oder Menschen heiraten und pflegen die Gebundenheit zum Ehepartner, ohne ihre Ehe von ungebundenen Verhältnissen tangiert zu sehen? Oder Menschen sehnen sich nach der Romantik der ewig lustvollen und beglückenden Begegnung zweier Menschen, an der die beste Ehe zerbrechen kann?
Nicht erst die Scheidungsraten, sondern die Praxis der verschiedenartigen Beziehungen zeigen, wie nötig es ist, über den Sinn von Ehe nachzudenken. Was ist der „Geist“, in dem „glückliche“ Ehen geführt werden? Es genügt nicht sie nur als Schicksal oder Matching Erfolge zu werten. Fragende können in Idriz Ausführungen zu den Regeln der Polygamie im Koran wertvolle Beiträge zum Sinn der monogamen Ehe finden.
In der Stelle im Koran, die als „Polygamie-Vers“ bezeichnet wird, geht es nach der Lesart von Imam Idriz nicht darum, die Polygamie zu legitimieren oder zu verbieten. Die Koranstelle fordert von den Männern, allen ihren Ehefrauen die gleiche Achtung und Zuwendung zu geben. „Wenn ihr aber Grund habt, zu fürchten, dass ihr nicht fähig sein mögt, sie mit gleicher Fairness zu behandeln, dann (nur) eine…“ (Koran 4:3, vgl. S. 31).
So gesehen ist die Frage, wie viele Frauen ein Mann hat, nicht das Entscheidende, sondern die Frage der Achtung gegenüber den Frauen. Luther schreibt, wenn Ehebruch im Glauben (und das heißt in der Achtung gegenüber Gott und allen Beteiligten) geschehen könnte, wäre er keine Sünde. Nach Kants kategorischem Imperativ gilt: Habe nur die Frauen (resp. Männer), die du als Zweck an sich – nicht nur Mittel zu deinem Zweck – behandeln kannst.
Eine spannende Frage – sowohl im Blick auf das Verhältnis von Polygamie und Monogamie im Koran als auch auf den Umgang mit Monogamie in einer christlich geprägten Gesellschaft – ist: Hat Monogamie einen Wert an sich, oder ist sie nur als Konsequenz der Achtung der Würde eines jeden Menschen erstrebenswert? Lügen, Täuschen und Benutzen verträgt sich nicht mit der Idee der Würde. Welche Verhältnisse kann ein Mensch in Offenheit und Aufrichtigkeit und mit dem Anspruch der Gleichberechtigung unter allen Beteiligten pflegen? Die Ehe mit Minderjährigen widerspricht, so Imam Idriz, der im Koran angelegten Gleichberechtigung von Mann und Frau. Darüber hinaus ist sie auch nicht durch den Text des Koran begründet (vgl. S. 34 ff.).
Die monogame Ehe ist in unserer Gesellschaft über weite Strecken von der Idee der Achtung jeder Frau gegenüber (jedem Mann gegenüber) losgelöst. Sie dient in vielen Fällen zur Begründung der Abstufung und Trennung verschiedener Verhältnisse (die Ehefrau, die Freundin, die Geliebte, der One-night-stand etc.). Die scheinbare Freiwilligkeit, mit der die jeweiligen Partner eines Menschen in den Verhältnissen leben, ist um den Preis der Auflösung der Einen Welt erkauft: Die Begegnungen Eines Mannes (resp. Einer Frau) mit verschiedenen Partnern finden in verschiedenen Welten statt. Diese könne nur im Leben des Mannes (resp. der Frau) nebeneinander bestehen, da den jeweiligen Partnern relevante Informationen über die anderen Welten entzogen oder verdunkelt werden. Ohne die Eine Welt, die allen offen steht, fehlt der Boden für gleichberechtigte Begegnung. Die Regel des Koran, dass es keine heimlichen Verhältnisse geben darf und es die Zustimmung der Frau zu einem weiteren Verhältnis benötigt (vgl. S. 29 ff.), wahrt die Eine Welt als Boden, auf dem beide (alle) Partner stehen und sich gleichberechtigt begegnen können. Es wäre interessant – nicht nur für den Dialog der Religionen! – wenn Menschen ihre Beziehungen in und außerhalb der Ehe an den „Regeln“ des Koran für achtsam gelebte Polygamie messen würden, statt sich als liberale Verfechter der „Errungenschaft“ der Monogamie zu sehen.
Monogamie wird auch da von Achtung losgelöst oder gar zum Ort der Missachtung, wo sie als Wert an sich gehandelt wird, dem entsprochen werden muss. Wer glaubt, dass eine Ehe als Sakrament von Gott gestiftet ist, dem bleibt im Falle der Zerrüttung nur die Wahl, entweder Gott zu missachten und sich zu trennen oder die Wirklichkeit zu missachten und sich gegenseitig zu einem Zusammenleben zu zwingen. Doch nicht nur das katholische Eheverständnis, sondern auch der Anspruch, Ehe als die moralisch wertvolle Lebensform vorbildhaft leben zu müssen, der besonders in Pfarrhäusern herrschte, führt zur Unterdrückung verbunden mit physischer und psychischer Gewalt gegenüber allen Beteiligten. Der Film „das weiße Band“ hat dies erschreckend in Szene gesetzt. Jesu Erläuterung zum Sabbat-Gebot gilt: Die Ehe ist für den Menschen und nicht der Mensch für die Ehe da.
In wieweit es in einem Eheverständnis um realitätsbezogene, gleichberechtigte Achtung geht, zeigt sich am Scheidungsrecht. Imam Idriz stellt das Recht auf Scheidung im Koran differenziert dar (vgl. S. 37 ff.). Es darf zum einen nicht mit dem Bedürfnis nach Bindung gespielt werden. In der Bibel heißt es, es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Imam Idriz verweist auf den Koran, nach dem Gott Partnerwesen erschaffen hat, „dass ihr bei ihnen Ruhe findet.“ (S. 161) Eine Ehe, die Nähe verweigert, lässt den Partner nicht Ruhe finden. Sie ist wie ein Fluch, der auf dem liegt, der Nähe sucht. In Folge der Vertreibung aus dem Paradies heißt es in der Bibel (1, Mose 3, 16 b): „Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein.“ Im Koran darf eine Frau nur vier Monate im Ungewissen hängen gelassen werden. Danach muss die Ehe wirklich, d.h. auch sexuell, gelebt oder geschieden werden (vgl. S. 39).
Zum anderen darf nicht mit der Sorge vor Ablehnung oder Scheidung gespielt werden. Spätestens beim dritten Mal, an dem eine Trennungs- bzw. Scheidungsabsicht dem Partner an den Kopf geworfen wird, muss nach dem Koran die Trennung vollzogen werden (vgl. S. 39 f.).
Hier wäre die Frage an das staatliche Scheidungsrecht zu stellen, wie weit die Regelungen, die zum Schutz der Ehepartner aufgestellt sind, in die „Polygamie“ (gemeint sind die vielen Ehen, die bestehen bleiben, obwohl die Ehepartner längst in anderen „monogamen“ Beziehungen leben) zwingen, da die Scheidung zu teuer kommt und mit dem Verlust des Lebensstiles verbunden ist. Es kann nicht sein, dass sich nur der Idealist, der allem Materiellen absagt, noch freiwillig scheiden lässt. Auch die faktische Unmöglichkeit der Scheidung, nicht nur die ideologische Verurteilung, verkehrt den Sinn der Ehe als Form der Achtung füreinander.
Warum sollten Menschen angesichts der Schwierigkeiten einer Ehe überhaupt noch heiraten? Wäre es nicht besser, das Bedürfnis nach Bindung zu überwinden und, statt Nähe zu erhoffen, sich an temporären Interessengemeinschaften zu erfreuen? Der Koran verbietet „Genussehen“. Weshalb eine Verbindung auf Zeit und zu einem bestimmten Zweck nach dem Koran „Unzucht“ und „Sünde“ ist, wird im Buch von Imam Idriz nicht näher erläutert (vgl. S. 28 f.). Sofern solche Beziehungen in gegenseitigem Einverständnis gelebt würden, wären sie gleichberechtigt. Der Vorwurf, einen anderen Menschen zu täuschen und dadurch auszunutzen, könnte nicht erhoben werden.
Das Problem liegt hier noch tiefer. Die Missachtung der Würde geschieht gleichberechtigt: Die Reduktion der Begegnung zweier Menschen auf ein Mittel zu einem Zweck führt dazu, dass keiner der Beteiligten in seiner Unfassbarkeit und Unverfügbarkeit in Erscheinung treten darf. Biblisch gesprochen ist der „Ewigkeit in ihrem Herzen“ kein Raum gegeben. Wer sich nicht mehr zu leben zugesteht als Interessenbefriedigung, achtet die eigene Würde nicht. „Würde“ wird zu einem leeren Wort, wo das Gefühl von Ewigkeit oder Unverfügbarkeit – das nur in Nähe, die nicht bedingt ist, gelebt werden kann – vom konkreten Lebensvollzug ferngehalten wird.
Ist diese Welt überhaupt ein Lebensraum für Menschen, die sich und andere als unverfügbar achten? Die Suche nach der adäquaten Lebensform ist wie der Versuch, das Unfassbare in Form zu bringen. Hier wird es religiös, will man die Idee der Würde als unveräußerlicher und deshalb unbedingter beherzigen (anstatt sie in Werte und Lebensformen zu pressen und damit zu verkaufen). Glaube ist Wissen und Mut anzuerkennen, dass keine Lebensumstände und keine Lebensform der Ewigkeit im Herzen des Menschen entsprechen, sie verwirklichen. Glaube ist Vertrauen, dass wir dennoch – eben als diese Unverfügbaren und Unfassbaren – in der Welt leben dürfen.
Die Frage, wie wir heutzutage also in Beziehungen handeln und vor allem nicht handeln wollen, ist zu groß, als dass man es sich leisten könnte auf die Einsichten anderer Religionen zu verzichten. Das Buch von Imam Idriz ist nicht nur ein Beitrag zum Islam. Es bietet allen interessierten Lesern die Chance, Einsichten des Koran als Anregungen für achtsames Leben zu entdecken.
Von Ursula Schwager