Meine geehrten Geschwister,
vor 15 Jahren, am 1. Juli 2009, wurde Marwa El-Sherbini, eine junge Frau, Mutter und hingebungsvolle Muslimin, im Dresdner Landgericht brutal ermordet. Marwa El-Sherbini war als Zeugin in einem Berufungsverfahren wegen Beleidigung ins Landgericht Dresden gekommen. Der Angeklagte hatte sie und ihr Kind ein Jahr zuvor auf einem Spielplatz in Dresden rassistisch beleidigt, woraufhin sie Strafanzeige erstattete. Im Gerichtssaal zog er ein Kampfmesser und stach sechzehn Mal auf die 31-jährige Frau und ihren Ehemann ein. Marwa El-Sherbini starb noch im Gerichtssaal vor den Augen ihres dreijährigen Sohnes und ihres Ehemannes. Ihr „Verbrechen“ war, dass sie ein Kopftuch trug und somit nicht in das Weltbild des Täters passte. Dass die Polizeikräfte im Gerichtssaal auf ihren Mann zugingen, anstatt den Täter selbst aufzuhalten, zeigt, wie stark rassistische Stereotype unser Verhalten beeinflussen.
Marwa El-Sherbini war somit nicht nur ein Opfer eines Einzelnen, sondern auch eines versagenden Systems, das sie eigentlich schützen sollte. Sie symbolisiert die Lebensrealität vieler Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, die täglich aufgrund ihrer Religion, ihres Aussehens oder ihrer kulturellen Herkunft Diskriminierung und Gewalt erfahren. Im Prozess gegen ihren Mörder wird die Staatsanwaltschaft erstmals antimuslimischen Rassismus als zentrales Tatmotiv benennen. Der 1. Juli ist, in Gedenken an Marwa El-Sherbini, seit 2015 der Tag gegen antimuslimischen Rassismus in Deutschland.
Antimuslimische Ressentiments nehmen zu und sind in jeder Sphäre des gesellschaftlichen Lebens spürbar. In diesem Zusammenhang möchte ich einen Bericht von CLAIM – Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit vorlesen, der die aktuelle Situation und die weitreichenden Auswirkungen dieser Ressentiments beleuchtet: „Insgesamt 1.926 antimuslimische Vorfälle wurden im Rahmen des zivilgesellschaftlichen Lagebildes antimuslimischer Rassismus für das Jahr 2023 dokumentiert. Das ist ein Anstieg von rund 114 % im Vergleich zum Vorjahr – und eine alarmierende Bilanz. Darunter sind rund 90 Angriffe auf religiöse Einrichtungen wie Moscheen, Friedhöfe und muslimisch markierte Orte. Die registrierten Fälle zeigen: Antimuslimischer Rassismus zieht sich durch alle Lebensbereiche, sei es bei der Wohnungssuche, beim Arztbesuch oder in der Schule. Ein großer Teil der dokumentierten Vorfälle trifft vor allem muslimische Frauen und findet im Bildungsbereich sowie im öffentlichen Raum statt. Frauen mit Kopftuch erfahren alltäglich rassistische Beleidigungen, Diskriminierung und Ablehnung. Insgesamt ist von einer gravierenden Dunkelziffer antimuslimischer Vorfälle auszugehen.“
„Der massive Anstieg antimuslimischer Übergriffe und Diskriminierungen im Jahr 2023 ist mehr als besorgniserregend. Gleichzeitig wird diese Bedrohungslage bisher kaum wahrgenommen. Für Muslim*innen und Menschen, die als solche gelesen werden, sind die Straße, der Bus oder die Moschee längst keine sicheren Orte mehr. Antimuslimischer Rassismus war noch nie so salonfähig wie heute und er kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Die Folgen für Betroffene sind oft gravierend und viele Menschen haben das Gefühl, sie seien der Solidarität nicht würdig,“ sagt Rima Hanano, Leitung von CLAIM.
Ob wir an den Mord an Marwa El-Sherbini, die Terroranschläge in Hanau und beim OEZ in München denken, die Beispiele sind zahlreich und unterstreichen eine Botschaft: Antimuslimischer Rassismus ist längst eine Lebensrealität der Muslime und gehört wie der Antisemitismus zu den größten Gefahren unserer Gesellschaft. Über alle möglichen Ursachen einer solchen Entwicklung zu sprechen, wäre an dieser Stelle nicht möglich. Allerdings möchte ich auf die Verantwortung dreier Instanzen besonders hinweisen: die Politik, die Medien und die Gesellschaft.
Wenn sogar demokratische Politiker auf rechtspopulistische Rhetorik zurückgreifen und Worte wählen, die sich gegen bestimmte Gruppierungen richten und von Ausgrenzung und Hetze geprägt sind, wenn tausend positive Beispiele im muslimischen Alltag von Politikern bewusst ignoriert werden und stattdessen ein negatives Ereignis dramatisch und permanent dargestellt wird, und wenn die Berichterstattung mehr über Islamismus als über Muslime spricht, sind die Konsequenzen einer solchen unreflektierten Rhetorik im Alltag von Musliminnen und Muslimen deutlich spürbar.
Die strukturelle Kriminalisierung von Migranten und die Deklassierung von Muslimen werfen derzeit Schatten über die unbekümmerte Gedankenwelt vieler Menschen. Wie das Sprechen ist auch das Schweigen eine Entscheidung. Besonders das situative Schweigen fordert eine Erklärung, die der Mensch auch dem Schöpfer der Leidtragenden schuldet. Denn es sind nicht nur Stimmen, die gegen Gerechtigkeit vorgehen; oft genug ist es auch das Schweigen, das das Unrecht besonders laut erscheinen lässt. Menschen wissen das. Und Menschen entscheiden sich bewusst dafür, zum Rassismus in den eigenen Reihen zu schweigen oder nicht laut genug dagegen einzutreten. Spätestens hier stellt sich die Frage, welchen Wert und welche Schönheit eine Tugend wie Solidarität noch besitzt, wenn ihr Einsatz von eigenen Interessen abhängt und nicht von den Bedürfnissen der Betroffenen.
Die Politik sollte endlich Muslime nicht als Problem, sondern als Teil der Lösung und als Partner in der Bewahrung unserer demokratischen Werte wahrnehmen. Die Medien, die die Stimmung in unserer Gesellschaft kreieren, sollten häufiger über die positiven Geschichten der Muslime hier im Lande berichten – von Akademikern, Wissenschaftlern, Unternehmern, Sportlern bis hin zu Pflegekräften. Alle leisten einen enormen Beitrag für das Wohl der Gesellschaft, in der sie leben. Schließlich, auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, brauchen wir Menschen, die Zivilcourage als einen ihrer zentralen Werte sehen und nicht tatenlos zuschauen, wenn Menschen aufgrund ihrer Religion, Hautfarbe oder Herkunft misshandelt werden. Es ist dann unsere menschliche, religiöse und bürgerliche Pflicht, uns für den Schutz unserer Mitmenschen einzusetzen.
In diesem Sinne sind die Worte des Propheten Mohammed zu verstehen: