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Integration & Bildung
Muslimisches Leben in Deutschland
Vortrag von Imam Benjamin Idriz im BallhausForum, Unterschleißheim am 23.10.2007
Muslimisches Leben in Deutschland – zukunftsgerichtet, interkulturell und dialogbereit – gegen kulturellen oder auch politischen Import und gegen islamistische Bestrebungen
Politische Entwicklungen und Ereignisse weltweit, hitzige Debatten rund um das Stichwort „Integration“ und die Zunahme der muslimischen Bevölkerung stellen Europa vor neue Herausforderungen im Sinne eines gelingenden Zusammenlebens. Sowohl die christliche Gesellschaft als auch Muslime sind vor neu zu definierende Aufgaben gestellt. In nie zuvor gekanntem Maße stellen Politik, Wirtschaft, Kirchen, Wissenschaft, Kunst und Kultur, Medien und Publizisten heute die Zukunft eines Europas mit Muslimen zum Diskurs.
Dabei ist der Islam in Europa nicht erst ein Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts. Seine Wurzeln liegen im Orient, genau wie bei Christentum und Judentum. Der frühe Islam brachte im Westen und Süden Europas blühende Kulturen hervor. In den Balkanländern sind muslimische Gemeinschaften seit Jahrhunderten fest strukturiert. Jahrhunderte des Friedens und des fruchtbaren Zusammenlebens zwischen Muslimen, Christen und Juden gehören zur islamischen und westlichen Kultur Europas – zur europäischen Geschichte.
Das deutsche und europäische Wirtschaftswunder zog in den sechziger Jahren viele ausländische Arbeitskräfte an. Mit den so genannten Gastarbeitern kamen auch viele Muslime nach Europa. Heute leben in Gesamteuropa schätzungsweise 54 Millionen Muslime. In den Staaten der Europäischen Union wird ihre Zahl auf 15 Millionen geschätzt. Hiervon verteilt sich etwa die Hälfte auf Frankreich, gefolgt von Deutschland mit rund 3,2 Millionen Menschen muslimischer Herkunft. Unterdessen gibt es schätzungsweise mehr als 100.000 deutschstämmige Muslime. Jährlich erwerben mehr als 20.000 ausländische Muslime die deutsche Staatsbürgerschaft, derzeit besitzt sie etwa eine halbe Million Muslime. Eine Mehrheit richtet sich auf einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland ein, für Viele ist Deutschland längst zur neuen – zu ihrer – Heimat geworden.
Erneut ist also der Islam in Europa und nun auch in Deutschland heimisch geworden. Aus den anfänglichen islamischen Initiativen und Selbsthilfegruppen bildeten sich ortsansässige islamische Gemeinden, die mittlerweile von einer in Europa geborenen und herangewachsenen, zweiten und dritten Generation getragen werden.
Heute sehen sich Muslime in Europa vor gesellschaftliche, kulturelle, zeitliche und räumliche Herausforderungen gestellt. Herausforderungen, die die Muslime veranlassen müssten, die eigenen Werte und ihr Selbstverständnis neu zu überdenken. Begriffe wie Identität, Integration, Herkunft, Kultur, müssen neu abgestimmt und angepasst formuliert werden. Das Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, und die entschiedene Verurteilung von Extremismus und Fanatismus, stellen grundlegende Glaubensprinzipien von Muslimen dar. Dies gilt es deutlich und plakativ herauszustellen.
Gleiches gilt für muslimische Positionen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, zur Verantwortung für Natur und Umwelt, zur Freiheit des Lebens und der damit verbundenen Verantwortung des individuellen Handelns und Wirkens als Mensch. Das Streben nach Wissen und Bildung, der Fortschritt und die damit verbundene Mobilität, können Wege in diese Richtung, hin zu notwendigen Neuorientierungen, aufzeigen. Den Moscheegemeinden und vergleichbaren islamischen Einrichtungen kommt ein wesentlicher Anteil am muslimischen Gemeindeleben zu, zumal etwa 25% der Muslime hier zu Lande organisiert sind.
Eine besondere Rolle kommt den Vermittlern des Glaubens zu: Den Imamen und Religionspädagogen, den Vermittlern von Wissen und Bildung, den einzelnen Funktionären, die wichtige Multiplikatoren in den islamischen Gemeinden sind. Hier wäre eine qualifizierte und durchdachte, auf europäischem Boden beheimatete, institutionalisierte Ausbildung der Vorreiter für offenes, transparentes und modernes Islamleben in Europa. Das entsprechend kompetent vermittelte Wissen könnte, in der Praxis, als Grundlage für übergreifende Zusammenarbeit in facettenreichen Gebieten des gesellschaftlichen Zusammenlebens dienen.
Damit ist eine Herausforderung angesprochen, die Muslime in diesem Land auch emotional bewegt; und dabei eine echte Chance für beide Seiten bietet, die Zukunft Europas gemeinsam zu gestalten, auf der Grundlage einer vertrauensvollen und respektvollen Annäherung. Bestehende Vorurteile und Klischeedenken gilt es aufzuarbeiten, fundierte Informationen und Begegnungen, Austausch, Kontakte auf allen Ebenen zum Abbau von Hemmschwellen und Hindernissen sind zu fördern. Durchdachte und pädagogisch ausgereifte Konzepte müssen erarbeitet und zentral gefördert werden, selbstverständlich in Kooperation und Vernetzung mit anderen muslimischen und nichtmuslimischen Einrichtungen, vor allem zur Stärkung und Stabilisierung der jungen zweiten und heranwachsenden dritten Generation, die immer mehr Brückenbaufunktionen übernehmen.
Islam und Wissenschaft
Der Islam bestärkt und fördert in seiner Kernbotschaft die ständige Suche nach Wissenschaftlichkeit und in seinem Bildungsgebot den immerwährenden Fluss der Aufklärung und der Dynamik seiner Spiritualität. Dies verpflichtet uns, Musliminnen und Muslime in Europa, zu einem ernsthaften Prozess der geistlichen Umstrukturierung. Die eigene Identität steht unmittelbar zur Debatte. Wir bedürfen einer Bestimmung unseres Verhältnisses zur Welt und zu der Gesellschaft, für die wir uns entschieden haben und mit der wir uns identifizieren.
Dabei geht es nicht um ein Aufgeben der religiösen Identität, sondern darum, im Einklang mit der Umgebung überzeugter, praktizierender Muslim und gleichzeitig angekommener Europäer zu sein. Das ist Voraussetzung und notwendig, denn es geht hier um unsere konstruktive Verantwortung für die hiesige Gesellschaft – also darum, als engagierte Bürgerinnen und Bürger muslimischen Glaubens für ein friedliches Zusammenleben in Pluralität einzutreten, für soziale Gerechtigkeit, für Menschenwürde, für Bildung und Erziehung und für unseren gemeinsamen Rechtsstaat.
Muslim sein in Europa bedeutet, die Offenbarung auf den Kontext des Hier und Jetzt zu projizieren, sie offen und dynamisch zu verstehen. Im Verbalen und Nonverbalen, im Handeln und im Tun, bedürfen wir einer durchgreifenden Reform, um die Normen und Werte des Islam auf das Hier und Jetzt abzustimmen ohne dabei seinen Geist zu verletzen.
Zwischen Muslimsein und Bürgersein darf kein Widerspruch bestehen! Der Islam fordert eine auf die Gesellschaft und auf die Gemeinschaft hin ausgerichtete Identität und verlangt von seinen Anhängern, sich aktiv am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen.
Bereitschaft zur Partizipation
An dieser Stelle möchte ich zu einigen Punkten, die Sie an der Präsentation unter den jeweiligen Stichpunkten finden, Position beziehen. Persönliche Bereitschaft zur Partizipation und die Mitverantwortung für das gesellschaftliche Gefüge, sind Grundprinzipien.
Muslime sind verpflichtet, ihren Kurs in religiösen Angelegenheiten stets neu zu formieren und zu überdenken. Eine klare Differenzierung zwischen Religion und Tradition ist dabei Voraussetzung für eine konstruktive Integration. Musliminnen und Muslime sind verpflichtet, sich aktiv auf allen Ebenen des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Geschehens bereichernd einzubringen. Der Zugang hierfür führt über die deutsche Sprache. Ihrem Erwerb muss folglich allererste Priorität zukommen. Denn nur wer die Sprache beherrscht, kann sich auch als in der Gesellschaft angenommen und anerkannt fühlen und dazu zählen.
Es steht außer Zweifel, welche Frage heute die meiste Polemik zum Thema Islam hervorruft, die Frage der Frau, ihrer Behandlung und ihrer Situation in der muslimischen Gesellschaft. Mann und Frau sind vor Gott absolut gleichwertig. Dabei ist es nach islamischem Verständnis selbstverständlich, dass Frauen in ihrem Handeln und Wirken ebenso mündig sind wie Männer. Frauen haben das Recht am gesellschaftlichen Diskurs teilzuhaben, das Recht zu Lernen und zu Lehren, das Recht auf finanzielle und soziale Unabhängigkeit, das Recht zu wählen und gewählt zu werden, das Recht auf Selbstbestimmung.
Jede Form von Verletzung, sei es körperlich, psychisch oder mental, ist auf das Schärfste zu verurteilen. Zwangsehen, so genannte Ehrenmorde und familiäre Gewalt haben keinerlei Grundlage in der Religion. Jede Frau ist selbst mündig für ihre Entscheidung zum Kopftuch. Das Tragen dieses Kleidungsstückes darf nicht Symbol für Unterdrückung und Zwang, und darf nicht politisches Zeichen für eine extremistische Ausformung des Islam sein.
Eine stärkere Differenzierung zwischen Religion und Tradition ist notwendig, da die Tradition häufig Frauen benachteiligt und dies fälschlich dem Islam als Religion zugeschrieben wird. Auch innerhalb der muslimischen Gemeinschaft besteht hier akuter Aufklärungs- und Handlungsbedarf. Mehr Bewusstseinsbildung gegen den Missbrauch von Religion muss gefördert werden. Gerade im Bereich Ehe und Familie müssen neue Wege der Moderne aufgezeigt werden, die im Einklang mit theologischem Grundverständnis ohne Zweifel bestehen.
Frauen genießen im Islam vorzügliche Rechte, deren Einforderung nicht Theorie bleiben darf. Es gilt hier, sie in allen Ausprägungen umzusetzen. Ein wesentliches Kriterium für die Verbesserung der Sozialisation der Frau und für ihre gleichberechtigte Aufnahme auch in die hiesige Gesellschaft ist ihre Einbindung in unterschiedlichste Bereiche des Lebens. Mehr Teilhabe und öffentliche Einbringung muslimischer Frauenperspektiven ist gefordert.
Zum Thema Extremismus
Der Kernsatz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, steht am Anfang des Grundgesetzes. Der Schutz menschlichen Lebens und seiner Würde ist auch Glaubensfrage und zugleich Existenzfrage in einer menschenwürdigen Gesellschaft. Diese Erkenntnis teilt unsere Verfassung mit dem tradierten Werteverständnis der monotheistischen Religionen, die den Generationen vor uns Orientierung boten. Den drei großen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam gilt jedes menschliche Leben als einzigartig und unantastbar. Der Koran sieht den Menschen als Stellvertreter Allahs. Ein Menschenleben ist daher unendlich kostbar. Wenn einer ein Menschenleben rettet, so heißt es im Koran, „ist es, als hätte er die gesamte Menschheit gerettet.“ (5,32)
Der Islam stellt das Leben als höchste Gabe Gottes an seine Geschöpfe dar, deshalb steht auch jede Form von Selbstmord im Widerspruch zum Grundsatz des geheiligten Lebens. Die Vereinbarkeit der demokratischen Gesellschaftsordnung und der Rechtsstaatlichkeit mit dem Islam muss deutlich unterstrichen werden. Zur religiösen Pflicht jedes Muslims gehört es, sich aktiv für den Frieden und für die Sicherheit des Landes und seiner Bevölkerung einzusetzen, in dem er lebt.
Wir verurteilen alle extremistischen und fundamentalistischen Gewaltakte auf der Welt. Sie dienen zu nichts anderem, als dazu, Religion zu Gunsten eigener Machtinteressen auszunutzen.
Mittlerweile dürfte ihnen ein angestrebtes Projekt in München mit dem Namen ZIEM, ausgesprochen Zentrum für Islam in Europa – München, bekannt sein. Ziel dieses Projektes ist es für das Wohlergehen Aller eine zukunftsweisende, auf die Menschenwürde ausgerichtete Perspektive zu schaffen. In diesem Sinne versteht sich ZIEM als innovativer Organisationsansatz in Deutschland. In erster Linie richtet ZIEM den Fokus auf die Identifizierung der muslimischen Gesellschaft mit der Mehrheitsgesellschaft, nach dem Leitziel: Deutsch, Deutschland und der Islam stehen nicht im Widerspruch zueinander!
Islam – fernab von traditionellen, nationalen, politischen, ideologischen und räumlichen Einflüssen eines aus anderen Regionen exportierten Religionsverständnisses zu sehen und eine gemäßigte und zeitgemäße islamische Lebenshaltung zu fördern.
Deutschland – das Land, an dem sich die neue Identität ausrichtet, zu kennen und zu schätzen, das Grundgesetz und die gesellschaftlichen Werte sich zu eigen zu machen und sich aktiv in der Gesellschaft einzubringen.
Deutsch – anzuerkennen, dass die Sprache unabdingbarer Faktor des Gemeinsamen ist und Deutsch als verbindende Kommunikation in diesem Land einzusetzen ist.
Die Sorgen der Bevölkerung sind nicht loszulösen von dem nach wie vor verbreiteten, negativen Image der Muslime: Zum einen wird „Islam“ von Vielen als problematisch für europäisches Werteverständnis und die deutsche Gesellschaftsordnung wahrgenommen. Und zum anderen gelten Muslime noch immer weitestgehend als „fremd“ und, trotz in Bayern geborener Generationen, kaum als beheimatet. ZIEM möchte hier gegensteuern und einen so dringend notwendigen, effektiven Beitrag leisten, um die weitere Entwicklung auf für alle Seiten verträglichere Bahnen zu lenken. Keineswegs darf ZIEM als eine Art Vorposten für eine vermeintliche „Islamisierung“ Europas missverstanden werden! ZIEM will ganz im Gegenteil einen wirksamen Mechanismus gegen die Fehlentwicklungen einer bisher nicht geglückten Integration, und gegen eine weitere Ausbreitung aggressiver und traditionalistischer Richtungen in Deutschland und Europa, in Gang setzen.
In diesem Sinne soll ZIEM, auch in seiner Außenwirkung, als Beitrag zu einem gerade nicht überfremdeten, sondern zu einem noch intakteren, ebenso bodenständigen wie bunten München verstanden werden. Effektiver, als das bisher und anderswo der Fall ist, soll Ghettoisierung oder Parallelgesellschaften entgegengewirkt werden. In den Vordergrund seiner Arbeit stellt ZIEM die Einrichtung eines „Zentrums für soziale Integration“. Oberstes Ziel der konzeptionellen Überlegungen ist die Förderung der Integration muslimischer Familien, ein dauerhaft ausgerichtetes, qualifiziertes Angebot, und dabei die Einbeziehung der Mehrheitsgesellschaft. Untersuchungen verweisen auf einen großen Bedarf nach Förderung einer strukturellen, kulturellen und sozialen Integration der muslimischen Familien.
Beim strukturellen Integrationsprozess zeigen sich insbesondere Benachteiligungen im Bezug auf die Bereiche Bildungswesen und Arbeitsmarkt. Kinder mit Migrationshintergrund wachsen mit mangelnder außerschulischer Förderung auf, oftmals bedingt durch geringe kulturelle und ökonomische Ressourcen der Eltern. Zudem wirken sich die erhöhten Anforderungen an die Erziehungskompetenz der Eltern nachteilig auf die außerschulische Förderung der Kinder aus. Die mangelnden Bildungserfolge der Kinder und der Jugendlichen bewirken wiederum geringe Erfolge auf dem Arbeitsmarkt.
Einen weiteren essentiellen Baustein von ZIEM wird das „Zentrum für Dialog und Information“ bilden.
Der interreligiöse Dialog hat an Bedeutung gewonnen und wird in jüngster Zeit vermehrt von allen Seiten gefordert und gefördert.
Der Islam lehrt die Einheit der gesamten Menschheit und betrachtet die Menschen als Geschöpfe des Einen Schöpfers. Die Diversität der Menschen ist von Gott gewollt. Hierzu sagt der Koran im Vers 49:13 folgendes: „Oh ihr Menschen, Wir haben euch von einem männlichen und weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennen lernt.“
Der Koran verpflichtet die Muslime, mit Andersgläubigen den Dialog auf beste Art und Weise zu führen, im Sinne einer Kultur des Diskurses und des gegenseitigen Lernens. Einen großen Anstoß für die heutigen Dialoggespräche gab ohne Frage das II. Vatikanische Konzil, das zu einem intensiven Dialog zwischen den Religionen aufgerufen hat. Papst Johannes Paul II. arbeitete unermüdlich für den interreligiösen Dialog. Er argumentierte überzeugend, dass Spannungen zwischen Islam und Christentum nur durch Dialog abgebaut werden können. Echter Dialog, gegenseitiger Respekt und Toleranz unter den verschiedenen Religionen, seien wesentliche Voraussetzungen, um einen rechtmäßigen Platz als Ebenbürtiger unter anderen Kulturen einzunehmen.
Wo im Zeitalter der Globalisierung Menschen aus einer diffusen Angst vor „dem Fremden“, aber auch aus begründeter Angst vor religiös motivierter Gewalt, ihre eigene Identität gefährdet sehen, kann der Dialog zum Abbau von Ängsten und Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts führen. Durch die Auseinandersetzung mit dem Anderen aus der eigenen Sicht kann es zu einer Reflexion und Vertiefung des Eigenen vor dem Hintergrund des Fremden kommen. In diesem Fall würden fremde Religionen als Wirkungsbereich Gottes gesehen werden, der zur Vertiefung des Glaubens oder sogar erst zur eigenen Identitätsfindung im Glauben führen kann.
Für dringend notwendig erachten wir in diesem Zusammenhang auch verstärkte Bemühungen, unter Muslimen selbst für mehr Offenheit und Dialogbereitschaft zu werben. Von den in Deutschland lebenden Musliminnen und Muslimen sollte mit vollem Recht die Aneignung eines gewissen Grundwissens über die anderen hier beheimateten Religionen und Konfessionen erwartet werden.
Und nun zum letzten und wohl spannendsten Punkt.
Zu einer Imamausbildung, beheimatet auf europäischem Boden, in einheitlicher verbindlicher Landessprache Deutsch.
Es besteht ein enormes Bildungs- und Informationsdefizit in Bezug auf den Islam. Die Gesellschaft und die Muslime selbst sind meist mit einem Zerrbild über den Islam konfrontiert. Das Bild des Islams hier in Deutschland wird nach wie vor als vorwiegend “ausländisch” oder “fremd” geprägt wahrgenommen. Noch immer wird der Islam als ein Phänomen im Umfeld von Immigration verortet. Hartnäckige Vorurteile (“Fundamentalismus, heiliger Krieg, Terrorismus, Ehrenmorde”) stehen einer harmonischen und gedeihlichen Koexistenz zwischen Muslimen und Nichtmuslimen auf gemeinsamer Basis im Wege.
Gefragt ist hier fachkundiges Personal, Menschen mit spezifischer Ausbildung, die diese Fragen kompetent angehen und eine entsprechende Bewusstwerdung sowohl innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in Gang setzen als auch nach außen klärende Signale setzen. Das bedeutet, dass die derzeitigen Träger und Vermittler religiösen Verständnisses, die Imame, die in den islamischen Gemeinden hohe Anerkennung genießen, vorrangig in den Diskurs mit einzubinden sind. In dem Maß, in dem die Rolle der Moscheen in der Diasporagesellschaft vielschichtiger geworden ist, ist auch das Aufgabenfeld der Imame gewachsen. Moscheen sind von einfachen Gebetshäusern zum funktionalen Mittelpunkt migrantenspezifischer Aufgaben gerückt. Imame wären der treibende Motor der Integration, doch lassen sie allzu oft die Grundanforderungen wie deutsche Sprachkenntnisse und fachliche Ausbildung vermissen.
Tatsache ist, dass zur Zeit in Deutschland weder staatliche noch von islamischen Organisationen getragene Ausbildungsstätten für Imame bestehen. Der Bedarf von ca. 2500 Moscheegemeinden in Deutschland, in Bayern etwa 350, wird meist durch den Rückgriff auf Imame aus den Herkunftsländern gedeckt. Imame aus dem Ausland verfügen kaum über ausreichende Sprach- und Kulturkompetenz und sind deshalb der Integration der Muslime in die deutsche Gesellschaft ebenso wenig förderlich, wie sie den Anforderungen der Gemeinden und ihrer Mitglieder vor allem in der zweiten und dritten Generation nicht gerecht werden.
ZIEM möchte auch hier ansetzen und eine Ausbildungsstätte für Imame und andere Multiplikatoren wie Religionspädagoginnen und Religionspädagogen, Seelsorgerinnen und Seelsorger und den funktionalen Gemeindevorstehern anbieten.
Eine Imamausbildung im Inland würde nicht nur eine wünschenswerte Dynamik in die Entwicklung einer Theologie des Islams in Europa bringen, sondern auch gleichzeitig auf das religiöse Leben der Muslime reagieren, insbesondere der heranwachsenden Generation, ihre Religion in den europäischen Kontext einbinden, und dem Bedürfnis der Mehrheitsgesellschaft nach Aufklärung und Integration durch kundige Muslime entgegenkommen.
Von in Deutschland in deutscher Sprache ausgebildeten Imamen profitieren die Gemeinden dadurch, dass die Voraussetzungen für die Entwicklung eines modernen, westlichen Islam – eines Islam in Europa – geschaffen werden. ZIEM trägt – und dies spreche ich hier auch im Namen der Mitinitiatoren und Unterstützer des Projektes – einen anspruchsvollen, aber durchaus optimistischen Charakter.
Optimistisch deshalb, weil es jenseits der Differenzen, derer wir uns bewusst sein müssen, eine Reihe von Werten besitzen, die unser Gemeinsam sind und uns zusammenführen. In deren Namen wir uns für das einheitliche Ziel, nämlich die Wahrung und Verteidigung der Würde aller Menschen engagieren wollen. Die Herausforderung des Pluralismus richtet sich an unsere Vernunft und unser Bewusstwerden und appelliert an den Sinn für unsere Verantwortung. Pluralität und Vielfalt der Zivilisationen und Kulturen verlangt eine beständige Anstrengung des Verstehens, des Dialoges, des Miteinander Wirkens und Handelns.
Es ist mehr als denn je nötig, dass wir Muslime uns den Herausforderungen der Zeit zu stellen haben, mit dem guten Gewissen, dass nichts im Islam gegen ein Engagement, gegen soziale Reform, gegen Fortschritt und Wohlergehen, das letztendlich zu einer Verbesserung im Leben der Menschen beitragen wird, entgegen steht.
Auf die Zusammenarbeit und Partnerschaft der bayerischen Staatsregierung, der Landeshauptstadt München, der Münchnerinnen und Münchner und der regionalen Zivilgesellschaft hoffend, sind wir bereit dieses anspruchsvolle Vorhaben in München mit Vorbildfunktion für ganz Deutschland und weit darüber hinaus ins Leben zu rufen.
Wir sind zuversichtlich in unserem Vertrauen, auf diese Unterstützung setzen zu können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.