Dialog
Ein Europa der Christen, Heiden, Juden und Muslime – na klar!
Vortrag von Gönül Yerli bei der Interkulturellen Akademie in Augsburg am 28. Oktober 2009
Die Vize-Direktorin des Forums, Gönül Yerli, spricht bei der Interkulturellen Akademie in Augsburg. Der Vortrag der muslimischen Religionspädagogin, die zurzeit zusätzlich katholische Theologie studiert, lautet: „Ein Europa der Christen, Heiden, Juden und Muslime – na klar“.
Es ist Ende Oktober und wir nähern uns wieder einmal einer Zeit, die zentrale Glaubensfragen des Christentums aufwerfen wird. Wir werden sicherlich wieder kontroverses im Spiegel, Stern und Focus oder in unseren täglich bezogenen Medien beobachten können, wie Weihnachten weihnachtet. Die Regale in den Supermärkten sind bereits überfüllt mit Weihnachtsware, in den Kinos laufen Filme mit Vorgeschmack auf diese besinnliche Zeit, heuer mit großen Frauengestalten der Kirchengeschichte, wie zum Beispiel „Hildegard von Bingen“ und „Die Päpstin“. An den Schulen wird schon fleißig für das Krippenspiel geübt. Währenddessen bereiten sich Muslime auf das Schächten vor und verhandeln mit Bauernhöfen nach Opfertieren. Neben der großen Hauptsynagoge in München möchte nun auch die liberal jüdische Gemeinde ein eigenes Zentrum errichten. Und erst heute Morgen beschäftigte uns die Frage, ob die Landesbischöfin von Hannover, zur Vorsitzenden des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gewählt wird.
All das, obwohl es noch nicht sehr lange her ist, dass durchaus kluge Köpfe in Europa prophezeit hatten, dass es mit der Religion unaufhaltsam bergab gehen wird. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt, bessere Bildungschancen, die zunehmende Verbesserung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse – auch wenn wir im Gegenzug zu diesen Faktoren von einer Krise sprechen – all dies sollte dazu führen, Religion aus dem unmittelbaren Blickwinkel zu verlieren. Manche glaubten, sie würde gänzlich verschwinden; andere waren vorsichtiger – aber die allgemeine Ansicht war, dass die öffentliche, gesellschaftliche und politische Bedeutung der Religion mit dem Milleniumswechsel immer mehr verdrängt werde und ihr zunehmend nur noch eine private Bedeutung zukommen würde. Nun, das hat sich mittlerweile als falsch herausgestellt.
In der Tat ist „Religion“ irgendwie wieder „in“, und wir leben keineswegs in einer zunehmend „säkularen“ Welt, in der Religion unaufhaltsam zerfällt, sich als eine geschichtlich überholte Größe sieht und immer mehr der Vergangenheit angehört. Im Gegenteil: Religion wächst weltweit zu einem Thema, das viele Menschen zutiefst bewegt und im Zentrum wichtiger gesellschaftlicher und politischer Debatten steht.
Aauf der Spiegel Online Seite stolperte ich vor kurzem über den Titel „Neue Religiosität: Halt streunender Seelen?“. Aufmerksam begann ich den Beitrag zu lesen, bis mir dann auffiel, dass dieser Artikel bereits 1978 verfasst worden ist, in dem Hans Küngs Alter mit 50 angegeben wird. Denn sein neu erschienenes Werk „Existiert Gott?“ war unter anderem Thema des Autors von Spiegel. An Aktualität hat dieser Artikel sicher nichts verloren. Genauso wie darauffolgende Artikel der nahen Vergangenheit wie z.B. „Weltmacht Religion, wie der Glaube Politik und Gesellschaft beeinflusst“. In zahlreichen Beiträgen befassten sich Autoren mit dem Einfluss von Glaube auf Politik und Gesellschaft und dem weltweiten Phänomenen der „Rückkehr des Glaubens“. In der Ausgabe Spiegel Spezial widmen sich die Autoren und Korrespondenten Themen wie der „Renaissance des Religiösen“, „Die Macht der Frommen“, „Glaube und Werte“, dem „Erfolgsrezept der amerikanischen Megachurches“, dem „Feindbild Islam“ oder der „Strahlkraft“ asiatischer Religionen und über Agnostiker und Atheisten.
Hunderttausende beten mit Papst Benedikt dem XIV. auf dem Weltjugendtag in Köln. Karikaturen des Propheten Mohammed in westlichen Zeitungen entfachen einen Aufruhr in der islamischen Welt. Christliche Fundamentalisten in den Vereinigten Staaten verbannen Darwins Evolutionstheorie aus dem Schulunterricht. Noch vor wenigen Jahren hätte kaum jemand eine solche Rückkehr der Religion erwartet. Lange lautete die gängige These, der Glaube werde in der naturwissenschaftlich geprägten Welt nur noch eine nebensächliche Rolle spielen. So das Editorial der Nr. 9 des Spiegels.
Europa lebt mit einem intensiven Interesse an Religion, sowohl im akademischen Bereich als auch im alltäglichen Leben und wird zunehmend zu einem kulturellen und religiös heterogenen Lebensraum. Durch die EU Osterweiterung und die Zuwanderung von vorwiegend muslimischen Immigranten stellt sich die Frage, ob die europäische Identität an spezifische Religionen gebunden ist. Trägt also religiöser Pluralismus zur Einheit oder zur Teilung Europas bei? Seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahre 1957, die die Europäische Union ins Leben riefen, sind die Gesellschaften Westeuropas in einem rasanten und allem Anschein nach unumkehrbaren Säkularisierungsprozess begriffen.
Gleichzeitig aber hat der europäische Integrationsprozess, die Osterweiterung der Europäischen Union und die Ausarbeitung des Entwurfs einer europäischen Verfassung grundlegende Fragen aufgeworfen, die das Selbstverständnis Europas betreffen und insbesondere die Rolle, die das Christentum dabei spielt. Was macht „Europa“ aus? Wo sollte Europa seine Grenzen ziehen? Besonders umstritten sind die Fragen zum Beitritt der Türkei in die EU und der Integration der Einwanderer aus Gebieten außerhalb Europas, bei denen es sich zum überwiegenden Teil um Muslime handelt.
In unserer rasant wachsenden Weltgemeinschaft ist im Zuge der Globalisierung und modernster Technik die Beeinflussung der westlichen Hemisphäre durch den Osten und umgekehrt unaufhaltsam. Diese Beeinflussung und Vernetzung wirft neue Fragen auf, stellt uns vor reale Herausforderungen. Dass auch hier zu Lande in einer vorwiegend christlich geprägten Gesellschaftsordnung, andere Religionen, wie der Islam und das Judentum in unser Bewusstsein rücken und wir uns damit auseinandersetzen, ist ein deutliches Zeichen für den Platz der Religion und des Glaubens im 21. Jahrhundert. Der amerikanische Philosoph Oliver Leaman ist von der These überzeugt, in diesem Jahrhundert eine Gesellschaft vorzufinden, in der sich Religion und Säkularisierung weder polemisch noch alternativ zueinander verhalten. Mit Blick auf die europäische Geschichte lässt sich schließen, dass wir nicht sagen können, es hätten besonders glückliche Verhältnisse geherrscht, wann immer es entweder einen Über-Enthusiasmus auf Seiten der Religionen gab, oder wenn Religionen geradezu demonstrative Ablehnung erfahren haben.
Vielmehr scheint Religion eine vitale und unverzichtbare Handreichung für das eigene und auch soziale Leben zu sein. Denn ein aufgeklärtes Religionsverständnis wird keineswegs freier Meinungsbildung, gesellschaftlichem Fortschritt, wirtschaftlichem Aufschwung, Integration, Modernisierung und Pluralismus im Wege stehen. Diese Entwicklung jedoch zu unterstützen und zu begleiten, ohne damit Missbrauch und Manipulation zu verbinden, ist nun die große Aufgabe, nicht nur einzelner Experten, sondern aller Menschen. Es kann gelingen, wenn wir die in den Religionen ohnehin vorhandenen Ressourcen von Wissenschaft und Ratio ausschöpfen und einsetzen, also Vernunft und Glaube versöhnen. Religion ist nicht die einzige, aber wohl eine unverzichtbare Quelle von Werten einer Gesellschaft, die weit über das einzelne Individuum hinaus Geltung beansprucht.
In allen Kulturen wurden ethische Standards formuliert, vor allem Religionen und Philosophien haben diese Entwicklung unterstützt und systematisiert. In unserer heutigen pluralistischen Welt kann aber keine einzelne Religion, Philosophie oder Ideologie allein einen Maßstab der gesamten Gesellschaft auferlegen. Seit den Kulturkampftheorien von Samuel Huntington in den 90er Jahren und den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und auf den darauf folgenden Kriegen in Afghanistan und dem Irak scheinen sich die einstigen Thesen zu bestätigen. Ereignisse wie der Karikaturenstreit oder die Auseinandersetzungen um die Rede des Papstes im Jahr 2006 gelten als weitere Belege dafür, dass die maßgeblichen Ursachen für Konflikte im Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen, bzw. Religionen zu suchen sind. Gerade für die Muslime in Europa hat die Theorie vom „clash of civilizations“ direkte Folgen, denn immer wieder wird die Ansicht vertreten, dass der Islam Europa wesensfremd sei und dass die Muslime in Europa nicht integrierbar seien.
Nun wie ist das denn tatsächlich mit dem Islam und den Muslimen in Europa?
Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, dass ich den größten Teil meiner Ausführungen dieser Religionszugehörigkeit widme, denn ich bin Muslima, ich bin aber auch mit Herzblut Bürgerin von Europa und möchte ernsthaft an meiner Zukunft und an der Zukunft meiner Kinder mitbauen und mitgestalten. Und zwar vor allem deswegen, weil es mir bewusst ist, dass es meine Generation von Muslimen in Europa sein wird, die entweder dem Islam zu einer friedlichen und gedeihlichen Koexistenz verhelfen oder den Theorien von Huntington eine Basis anbieten werden.
Der Islam ist in Europa keine Neuerscheinung. Wie das Christentum und das Judentum finden sich seine Wurzeln vor Jahrhunderten im Osten, als eine der drei größten Weltreligionen. Dass wir heute ein starkes wirtschaftliches und politisches Europa prägen, gleichzeitig aber auch ein religiöses Europa mit Anhängern der drei Abrahamitischen Religionen, die diesen Kontinent stärker beeinflusst haben, als uns bewusst ist. Der Islam in Europa hat eine weitreichende und reiche Geschichte zu verzeichnen. Er trug zur Ausprägung der Gesellschaft in Europa mit intellektuellem Fundus, Medizinwissen, Kunst und Architektur bei. Denken wir dabei an den Muslim Ibn Rushd, der hier zu Lande unter dem Namen Averroes geführt wird, im 11. Jahrhundert lebte und eine Klarheit für die Philosophie von Aristoteles schuf, die auf das mittelalterliche christlich-europäische Denken großen Einfluss ausübte. Averroes war Universalgelehrter, bewandert in Philosophie, Theologie, Islamischem Recht, Astronomie, Mathematik und Medizin. Sein großes philosophisches Thema war die Vereinbarkeit von Religion und Philosophie. Er vertrat die Meinung, dass der Koran den Gläubigen mit der Aufforderung zum Nachdenken den Auftrag zur Philosophie gibt. Auch ein Blick in die Ausführungen des katholischen Theologen und Philosophen Thomas von Aquin ein Jahrhundert später, bestätigen, dass muslimische Philosophie und Wissenschaft auf die europäische Kultur des Mittelalters und der Neuzeit unermessliches beigetragen haben. Frieder Otto Wolf, Privatdozent für Philosophie an der FU Berlin, sagt: „Ohne die islamische Philosophie hätte es weder Scholastik noch Aufklärung geben können“ und kommt zu dem Schluss: „Der Islam ist nichts der europäischen intellektuellen Tradition Äußerliches, sondern er gehört selbst wesentlich zu unserem westeuropäischen Kulturerbe“. Die Philosophie ist nur ein Beispiel für den Beitrag des Islams zur europäischen Zivilisation.
Bis heute bemerken wir den Einfluss der islamischen Zivilisation auch auf unseren Wortschatz. Im Bereich der Medizin führt uns folgendes Beispiel vor Augen, dass im so of beispielhaft aufgeführten Andalusien des 8. Jahrhunderts in Cordoba sich ein christlicher Mönch, ein spanischer Jude und arabische Ärzte zusammengetan haben, um eine alte arabische Übersetzung eines Arzneimittelbuches aus dem Griechischen zu verbessern. Ein anderes Beispiel kommt aus Sizilien: Unter dem normannischen König Roger II. (1127-1154) und seinem Sohn Wilhelm I. (1154-1166) arbeitete der muslimische Geograph und Botaniker al-Idrisi und erstellte seine berühmte Weltkarte. Doch was ich hier aufführe, ist eigentlich lange bekannt und auch kein Geheimnis und leicht nachlesbar, z.B. in „Der Einfluss des Islam auf das europäische Mittelalter“ von Montgomery Watt. Es ist wichtig, diese Kulturleistungen als gemeinsame einzuordnen.
Muslime neigen manchmal leider dazu, alle möglichen Errungenschaften in Naturwissenschaft, Technik und anderen Bereichen für sich zu beanspruchen – häufig aus einem Minderwertigkeitskomplex heraus, weil die gegenwärtige Lage in vielen Teilen der sog. Islamischen Welt nicht gerade im Sonnenlicht steht. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass auch die muslimische Zivilisation auf etwas aufgebaut hat. Dass sie von den wissenschaftlichen und kulturellen Errungenschaften der Griechen, Byzantiner, Perser, Inder und Juden profitiert und Einflüsse aus China und Afrika aufgenommen hat. Die wichtigen Übersetzungen aus dem Griechischen in der Zeit der Abbasiden wurden z.B. maßgeblich von China geleistet.
Ganz bestimmt verwende ich diese Ausführungen nicht dafür, um einem Anspruch Geltung zu verschaffen, dass der Islam schon immer zu Europa gehöre und damit ein selbstverständliches Wesen dieser Weltreligion sei. Ich sehe es als Bereicherung, auf diese Geschichte zurückgreifen zu können. Ich bekenne mich dazu, dass der Islam in Europa nicht aufgenommen werden sollte, weil er für diese Zivilisation hervorragendes geleistet hat, sondern weil hier Muslime leben und sich auf ein dauerhaftes Leben und auch auf ein Leben Jenseits von Europa eingestellt haben. Und dafür heißt es, sich nicht mit muslimischen Ahnen zu rühmen, sondern Hand anzulegen, um dem muslimischen Dasein im Hier und Jetzt gerecht zu werden.
Unsere deduktive Wahrnehmung des Islams, genauer der Muslime, wird begleitet von auffallenden Kopftuchträgerinnen, von Forderungen nach einem islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen, von rituellen Schächtungsvorschriften und von muslimischen Friedhöfen. Natürlich dürfen Zwangsehen, unterdrücktes Frauenbild und Terrorzellen in Deutschland nicht fehlen. Ein Sichtbar werden, von den Hinterhöfen heraus mitten in die Gesellschaft zu treten, bringt nicht nur Fragen und Herausforderungen mit sich, sondern eben auch oftmals latente Ängste.
In zugespitzter Form haben wir sie auch vor kurzem von Thilo Sarrazin formuliert gehört.
Doch wie sieht es mit der Integrationsbereitschaft der Muslime aus? Wollen sie? Können sie überhaupt? Schaffen sie es, die Balance zwischen Kultur und Tradition und dem europäischen Standard zu halten? An diesem Punkt angelangt erlauben sie uns einige grundsätzliche Debatten, wenn es um den Islam und die Muslime, um die Integration und dergleichen geht, zu bestimmten Punkten Stellung zu beziehen: zum Bekenntnis zum Rechtsstaat und Pluralismus, zum Frauenbild, zum interreligiösen Dialog und zum Extremismus.
Heute sehen sich auch durchaus Muslime in Europa vor gesellschaftliche, kulturelle, zeitliche und räumliche Herausforderungen gestellt. Herausforderungen, die die Muslime eigentlich veranlassen müssten, ihr Selbstverständnis neu zu überdenken. Das Bekenntnis zur Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, und ein entschiedenes Einschreiten gegen – nicht nur Verurteilung von – Extremismus und Fanatismus stellen grundlegende Glaubensprinzipien von Muslimen dar. Dies gilt es, noch deutlicher und plakativer herauszustellen.
Gleiches gilt für muslimische Positionen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, zur Verantwortung für Natur und Umwelt, zur Freiheit des Lebens und der damit verbundenen Verantwortung des individuellen Handelns und Wirkens als Mensch. Es steht außer Zweifel, welche Frage heute die meiste Polemik zum Thema Islam hervorruft, die Frage der Frau, ihre Behandlung und ihre Situation in der muslimischen Gesellschaft. Diesem Thema messe ich besondere Priorität bei. Fakt ist, dass man über dieses Thema sehr wohl in der Gesellschaft spricht, bittere Tatsache jedoch, dass es in großen Teilen der muslimischen Gemeinschaften ein Tabu ist und manche Gemüter sogar beunruhigt. Dabei ist es nach den primären islamischen Quellen selbstverständlich, dass Frauen in ihrem Handeln und Wirken ebenso mündig sind wie Männer. Mann und Frau sind vor Gott absolut gleichwertig. Frauen haben das Recht am gesellschaftlichen Diskurs teilzuhaben, das Recht auf Selbstbestimmung. Niemand hat das Recht, unter Berufung auf eine Religion, jungen Mädchen das Recht auf Selbstbestimmung vorzuenthalten. Zur Ehe gedrängt zu werden ist nicht Ausdruck intakter Familienstrukturen, sondern schlichtweg ein Verbrechen. Es muss selbstverständlich werden, dass junge muslimische Mädchen selbst entscheiden können, ob sie das Kopftuch tragen oder nicht – und ganz selbstverständlich am Sportunterricht und an Klassenfahrten teilnehmen. Mit Hilfe dieser Frauen wird sich der Islam, der sich als Religion, als Glaubensüberzeugung begreift – und nicht als Hüter patriarchalischer Traditionen aus den jeweiligen Herkunftsländern, die mit der Lehre des Korans letztlich nicht viel zu tun haben, zum Wohl der Gemeinschaft entwickeln.
Dabei geht es nicht um ein Aufgeben der religiösen Identität, sondern darum, im Einklang mit der Umgebung überzeugter, praktizierender Muslim und gleichzeitig angekommener Europäer zu sein. Das ist Voraussetzung und notwendig, denn es geht hier um unsere konstruktive Verantwortung für die hiesige Gesellschaft – also darum, als engagierte Bürgerinnen und Bürger muslimischen Glaubens für ein friedliches Zusammenleben in Pluralität einzutreten, für soziale Gerechtigkeit, für Menschenwürde, für Bildung und Erziehung und für unseren gemeinsamen Rechtsstaat. Muslim sein in Europa bedeutet, die Offenbarung auf den Kontext des Hier und Jetzt zu projizieren und sie offen und dynamisch zu verstehen ohne dabei seinen Geist zu verletzen. Zwischen Muslimsein und Bürgersein darf also kein Widerspruch bestehen! Der Islam fordert eine auf die Gesellschaft und die Gemeinschaft hin ausgerichtete Identität und verlangt von seinen Anhängern, sich aktiv am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen.
Auf die Frage der Vereinbarkeit von Europa und Islam gibt es eine klare Antwort. Den europäischen Werten verbunden, bietet Europa und damit Deutschland eine neue Epoche eines aufgeklärten Islamverständnisses. Weder Europa noch die Muslime dürfen sich dieser Chance verschließen.
Der interreligiöse Dialog, wird von fast allen Demokratien und Religionsgemeinschaften gefordert. Hier zu Lande, wie wohl auch global stellt sich dem Dialog der Kulturen ein Problemfeld: Gegenseitig gibt es ein erhebliches Maß an Vorurteilen, Feindbildern und Klischees. Vor allem Christen und Muslime sind hier die Betroffenen. Einseitige und teilweise desinformierende Berichterstattung in den Medien hierzulande wie auch in der muslimisch geprägten Welt tragen zu dieser Wahrnehmung bei. Hinzu kommt die blanke Ahnungslosigkeit bei Christen über den Koran und bei Muslimen über das Neue Testament. Auf beiden Seiten herrscht Misstrauen. Viele Muslime fürchten der von der christlichen Seite angebotene Dialog – könnte ja ein schlummerndes Mittel der Missionierung sein. Genauso wie man auf der anderen Seite von der Sorge vor einer Islamisierung und Unterwanderung des vorwiegend christlich geprägten Europas geprägt ist.
Dabei ist die Diversität der Menschen von Gott gewollt. Der Koran verpflichtet die Muslime, mit Andersgläubigen den Dialog auf beste Art und Weise zu führen, im Sinne einer Kultur des Diskurses und des gegenseitigen Lernens. Ein Prinzip, das als Garant der Religionsfreiheit im Islam gilt, ist der Pluralismus. Der göttliche Wille hat nicht gewollt, alle Menschen zu einer einzigen Religion zu verschmelzen. Der Qurán-Vers mit sinngemäßer Bedeutung „Wenn dein Herr es gewollt hätte, so hätten alle Menschen auf der Erde sich die Wahrheit angeeignet und geglaubt. Willst du etwa Menschen Gewalt anwenden, damit sie glauben?“ (10:99) drückt dies deutlich aus. Dass der göttliche Wille auf die Wahl des Menschen, die er durch seinen freien Willen trifft, Wert gelegt hat und dass jedes Individuum frei ist, hinsichtlich der Wahl der Religion, die eine essentielle Entscheidung ist. Wo im Zeitalter der Globalisierung Menschen aus einer diffusen Angst vor „dem Fremden“, aber auch aus begründeter Angst vor religiös motivierter Gewalt, ihre eigene Identität gefährdet sehen, sollte der Dialog als Mechanismus zum Abbau von Ängsten und Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts gesehen werden.
Dringend notwendig wären in diesem Zusammenhang auch verstärkte Bemühungen, unter Muslimen selbst für mehr Offenheit und Dialogbereitschaft zu werben. Mittlerweile fungieren unendlich viele Foren um den interreligiösen Dialog zu fördern, sowohl die Kirchen, als auch auf muslimischer Seite wurden eigens hierfür lokale Stabstellen geschaffen. Auf höchster Ebene trifft man sich mittlerweile im Vatikan. Mit dem historischen Treffen im Herbst letzten Jahres wurde das Katholisch-Muslimische Forum ins Leben gerufen. „In Vielfalt geeint“ lautete das Motto der EU, denn 2008 war das europäische Jahr des interreligiösen Dialoges.
Islam und Gewalt – das ist heute eine fast zwangsläufige Assoziation, wenn man von der Darstellung der Medien und unserem Alltagsbewusstsein ausgeht. Die immer näher rückende Welt bietet leider auch ein bedrohliches Spektrum von unterschiedlich motiviertem Extremismus, dazu zählt auch der religiös motivierte. Die gefährlichste dieser Ausprägungen ist jedoch der religiös indoktrinierte Extremismus und Fanatismus. Meist geschürt von religiöser Engstirnigkeit, politischer Unzufriedenheit, äußeren Einflussnahmen, innerem Druck, schwieriger sozialer und wirtschaftlicher Lage. Der weltweite Extremismus bereitet uns nicht nur hier im Westen starke Kopfschmerzen, gemäßigte Gruppierungen verfolgen auch in den islamisch geprägten Ländern die Entwicklung mit Entsetzen. Denken wir an die Menschen, die mit Vernunft den Verstand, die Religion und das Leben aufeinander abgestimmt haben, die es geschafft haben, Moderne und Religion in Einklang zu bringen und die alle Formen von Gewalt ablehnen. Sie sehen sich jedoch ebenfalls damit konfrontiert, mit dem Stigma „Extremist“ behaftet zu werden. Die Ungerechtigkeit, die sie dabei erfahren, zeugt von der unberechenbaren Kraft des religiös motivierten Fanatismus.
Der Kernsatz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, steht am Anfang des Grundgesetzes. Der Schutz menschlichen Lebens und seiner Würde ist auch Glaubensfrage und zugleich Existenzfrage in einer menschenwürdigen Gesellschaft. Diese Erkenntnis teilt unsere Verfassung mit dem tradierten Werteverständnis der Religionen, die den Generationen vor uns Orientierung boten. Den drei großen Weltreligionen gilt jedes menschliche Leben als einzigartig und unantastbar. Der Koran sieht den Menschen als Stellvertreter Allahs, Gottes. Ein Menschenleben ist daher unendlich kostbar. Wenn einer ein Menschenleben rettet, so heißt es im Koran „ist es, als hätte er die gesamte Menschheit gerettet.“ (5,32) Der Islam stellt das Leben als höchste Gabe Gottes an seine Geschöpfe dar, deshalb steht auch jede Form von Selbstmord im Widerspruch zum Grundgesetz des geheiligten Lebens.
Zur religiösen Pflicht jedes Muslims gehört es, sich aktiv für den Frieden und für die Sicherheit des Landes und seiner Bevölkerung einzusetzen, in dem er lebt. Der Gesandte und Prophet des Islams setzte sich 23 Jahre lang für die Realisierung eines Ideals ein: „Der Muslim ist diejenige Person, vor deren Hand und Zunge, d.h. Taten und Worten, jeder Mensch sich sicher fühlt.“ „Alle Menschen sind vor Gott gleich, wie die Zähne eines Kammes.“ und „Keiner von euch ist gläubig, solange er seinem Nächsten nicht das wünscht, was er sich selber wünscht.“ sind Kernbotschaften.
Ein wichtiger Aspekt der Globalisierung ist eine bisher unbekannte Nähe von Menschen, Kulturen und Religionen. Der europäische Einigungsprozess, die europäische Nachbarschaftspolitik, Migration und Immigration haben in vielen Ländern zu einer höheren Zahl an Sprachen und Glaubensbekenntnissen, und so zu größerer ethnischer und kultureller Vielfalt geführt. Die Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen erfolgen zwar durch persönliche Erfahrungen im Alltag, werden aber noch nicht unbedingt als bereichernd empfunden. Mit hoher Priorität suchen wir deshalb in ganz Europa nach Wegen einer guten, gelungenen Integration, wie es hinterher heißen soll. Wir stehen vor einer großen Herausforderung, deren Kern ein interkultureller Lernprozess ist.
Wir könnten z.B. bestehende Vorurteile und Klischeedenken gemeinsam aufarbeiten, fundierte Informationen und Begegnungen, Austausch und Kontakte auf allen Ebenen zum Abbau von Hemmschwellen und Hindernissen fördern. Somit könnten wir auch durchdachte und pädagogisch ausgereifte Konzepte erarbeiten und zentral fördern, selbstverständlich in Kooperation und Vernetzung mit muslimischen und nicht-muslimischen Einrichtungen, vor allem zur Stärkung und Stabilisierung der jungen zweiten und heranwachsenden dritten Generation, die immer mehr Brückenbaufunktionen übernehmen. Das sind Voraussetzungen, um kulturelle Vielfalt als Bereicherung, Ressource und Chance erlebbar zu machen, Differenzen konstruktiv zu reflektieren und um Integration sowie wechselseitiges Verständnis zu fördern.
Ich führe nur noch wenige Schlussgedanken auf. Die Welt hat auf der einen Seite mit vielen Problemen zu kämpfen, die die ganze Menschheit betreffen. Verletzung der Menschenrechte, Einschränkung der Freiheit, Kriege, Analphabetismus, Armut, weltweiter Terror, Klimaveränderung, Finanzkrisen – das sind Schlagwörter die mir auf Anhieb einfallen.
Religionen können gedeihliche und ermutigende Aspekte hervorbringen. Aus religiösem Glauben haben sich in der Vergangenheit die meisten Ideen gespeist, auf denen große Zivilisationen beruhen, sei es auf der muslimischen oder auf der westlichen Modernen Seite. Auch heute motiviert religiöser Glaube zum Wohlsinn einer Gemeinschaft. Aus unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen engagieren sich Menschen gegen Armut, Ungerechtigkeit und Unterdrückung, für Menschenrechte und für karitative Zwecke. Religionen können verbindend wirken.
Und gerade hier liegt ein großes Potenzial im Dialog der Religionen: die Bereitschaft, sich allen zu öffnen, ein Miteinander zuzulassen, Begegnungen zu ermöglichen, die zu einem besseren gegenseitigen Verständnis führen können. Uns sollte bewusst sein, dass das Zusammenleben in kultureller und religiöser Vielfalt nicht von allein gelingt. Es wird begleitet von einem wechselseitigen Prozess des ständigen Nehmens und Gebens. Uns sollte auch bewusst sein, dass wir unter den Grundlagen des Zusammenlebens ein und dasselbe verstehen, dazu gehören das Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, dazu gehören die Grund- und Menschenrechte, dazu gehört die Achtung von Andersdenkenden, Andersgläubigen oder Nichtgläubigen. Das sind die für uns alle geltenden Fundamente unserer Gesellschaft und diese Werte wollen wir für ein gemeinsames Europa bewahren.