Buchrezension

Wie verstehen Sie den Koran, Herr Imam?

Rezension des Buchs von BENJAMIN IDRIZ: „Wie verstehen Sie den Koran, Herr Imam? – Grundgedanken für einen Islam heute und hier“

19. Dez 2021 | Rezensionen

Idriz: „Wie verstehen Sie den Koran, Herr Imam? - Grundgedanken für einen Islam heute und hier
Rezension von Dr. Osman Kozlić
Benjamin Idriz: „Wie verstehen Sie den Koran, Herr Imam? – Grundgedanken für einen Islam heute und hier“
Gütersloher Verlagshaus, 2021

Lies den Koran, als wäre er dir offenbart

Im September dieses Jahres erschien im Gütersloher Verlagshaus ein Buch von Benjamin Idriz, Imam der Islamischen Gemeinde Penzberg in Oberbayern, mit dem Titel: Wie verstehen Sie den Koran, Herr Imam? Grundgedanken für einen Islam heute und hier. Meine Freude beim Lesen dieses Buches war zweierlei: Einerseits studierte ich berufstheologische Ausdrücke direkt auf Deutsch, andererseits genoss ich die Ausarbeitungen und Erläuterungen des Autors zu sehr heiklen Fragen, die sehr oft mit dem Koran und Islam in Verbindung gebracht werden.

Da der Koran früher in einem anderen Kulturraum und in einem ganz anderen Kontext offenbart wurde, stellt sich der Autor gleich zu Beginn die Frage: Wie ist seine Botschaft zu verstehen und was hat uns dieses Buch heute zu sagen? Er schreibt auf Deutsch und fordert die in Deutschland (aber auch anderswo, wo Deutsch gesprochen wird) lebenden Imame und Muslime auf, den Islam zu deuten und zu erklären – den Islam (qualitativ) darzustellen und in der Landessprache näher zu erläutern. Natürlich unter Bezugnahme auf Vers Nr. 4 aus Sure Ibrahim, die besagt, dass Gott immer einen Gesandten/Propheten entsandt hat, um zu den Menschen in ihrer Sprache zu sprechen. Die Sprache und eine offene Kommunikation, sagt der Autor, sind die Schlüssel, um den Koran bzw. den Islam zu entgettoisieren.

Was ich am Anfang für am wichtigsten halte, ist das Beharren des Autors auf dem Koran und dem Vorrang von Gottes Wort gegenüber anderen traditionellen und rationalen Quellen der islamischen Lehre. Dies lässt sich deutlich an den Titeln seiner Bücher ablesen: Der Koran und die Frauen und Wie verstehen Sie den Koran, Herr Imam?. Dieser Ansatz von ihm zeigt das Streben oder den Wunsch, dass Muslime notwendigerweise zum Koran zurück­kehren müssen. Dieser stellt ein Buch Gottes dar, dessen Aufgabe es sei, Menschen aus der Dunkelheit ans Licht zu bringen. Natürlich, vorausgesetzt, man nähert sich dem Koran ausschließlich mit der Absicht einer geweihten Lesung mit dem Ziel, seine Geheimnisse für eine neue Zeit zu enthüllen. Und unter der Bedingung, dass der Koran nicht durch die Linse des Hadith betrachtet wird, wie Jonathan Brown, ein muslimisch-amerikanischer Islamwissen­schaftler, sagt, insbesondere nicht durch das Prisma verschiedener Traditionen aus der Vergang­enheit oder interpretativer Ideologien, wie der bosnische Intellektuelle Rusmir Mahmutćehajić behauptet.

Der Autor fordert eine direkte Begegnung mit dem Koran, aber nicht nur von muslimischen Gelehrten, sondern auch von Intellektuellen unterschiedlichen Profils, darunter natürlich auch Nichtmuslime. Keine Instanz, sagt der Autor zu Recht, kann über dem Koran stehen, nicht einmal die Sunna, die dem Propheten Muhammad zugeschriebene Überlieferung, geschweige denn Interpretationen der Gelehrten. Den Koran, so argumentiert der Autor, dürfen wir darum nicht (in Bedeutung und Interpretation) als erstarrten Text verstehen, sondern müssen ihn immer vielmehr als ein offenes und interaktives Gespräch zwischen Gott und Menschen in allen Zeiten begreifen.

Im ersten Teil des Buches mit dem Titel Text und Kontext – Drei Kriterien, um den Koran besser zu verstehen, nämlich durch die Anlässe der Offenbarung (erstes Kriterium), nachsinnen/ nachdenken über koranische Reflexionen (zweites Kriterium), die Absichten oder das Auf­decken der Ziele des Korans (drittes Kriterium), hält der Autor fest, dass wir (heute) eine vernunftgeleitete, kreative Neukontextualisierung des Textes des Korans und der Sunna brauchen. Die Vernünftigkeit oder das Endziel (Intention) des Korans zu suchen bedeutet, die Bedürfnisse und Fragen der heutigen Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, denn Offen­barung ist kein Selbstzweck, sondern war immer an den Menschen gerichtet. Mit Kritik an der Reduktion des Glaubens des Islams auf fünf Fundamente oder grundlegende islamische Pflichten führt uns der Autor in den zweiten Teil des Buches ein: Die sieben Säulen des Korans. Obwohl der Autor nach diesem Kapitel auf die wichtigen Themen für das tägliche Leben der Muslime zurückkommt, nämlich Iman (Glaube) und Gebet, Fasten, Zakat und Hadsch, könnte man sagen, dass die sieben Säulen des Korans der Kern dieses Buch sind.

Wissen als Grundlage für Aufklärung und gesellschaftliche Entwicklung (1), Freiheit als Voraussetzung für Ehrlichkeit und persönliche Entwicklung (2), Friedensstiftung und Gewaltbekämpfung (3), Gleichberechtigung und Bekämpfung von Diskriminierung (4), gerechte Ressourcenverteilung und Armutsbekämpfung (5), Umweltschutz und Umwelt­bewusstsein (6), und Das Leben durch den Glauben nicht zu erschweren (7), sind die sieben Säulen des Korans, die uns der Autor näher bringen möchte. Aus Sicht des Autors könnte man natürlich viel über diesen Teil des Buches erfahren. Aber zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass Hafiz Dr. Benjamin Idriz erst in diesem Kapitel gezeigt hat, dass er jemand ist, der den Koran und seine Wissenschaften gut kennt, aber auch die Philosophie des islamischen Rechts ,denn es geht hier um die Intentionen des Korans und das Konstruieren des Schwierigsten: um Schlüsselgedanken, Botschaften, Prinzipien und Theorien.

Als Kenner des Korans untermauert er seine Ansichten mit Koranversen. Das Ziel oder die Intention des Korans ist es, alle Menschen gleich und gerecht zu behandeln, die Ressourcen der Welt gerecht zu verteilen, um den Kampf gegen Diskriminierung aufgrund von Rasse, sexueller Orientierung, Sprache, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit oder eines bestimm­ten sozialen Status zu ermöglichen. Der Staat sollte daher, seiner Meinung nach, die Pflicht zum Schutz der Meinungsfreiheit, der freien Wahl des Lebensstils und der religiösen Über­zeugungen übernehmen und gleichzeitig Neutralität gegenüber allen Religionen (und Religions­gemeinschaften) wahren und keine Diskriminierung jeglicher religiöser Über­zeugungen zulassen. In Bezug auf den Dschihad und seine ursprüngliche Bedeutung und im Zusammenhang mit der Herstellung von Frieden und der Bekämpfung von Gewalt, erklärt er, dass das, was Muslime in ihrem ständigen Kampf (Dschihad) in den Händen halten sollten, keine Waffe, sondern ein Buch ist. Ein ganz klarer Korantext in der Sure Furkan weist uns nämlich darauf hin (Furkan, 52).

In den folgenden Kapiteln beschäftigt sich der Autor mit der Definition der Begriffe Islam und Muslim sowie den Begriffen Iman, Glaube oder die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Das Hauptproblem, dem sich dem Autor stellt, ist sicherlich die Definition der Begriffe Islam und Muslim, also (Verstehen) von Glauben (innerer Glaube) und Gutes tun. Im vertikalen Sinne, so erklärt der Autor, bedeutet Islam Gehorsam gegenüber Gott, während dieser Begriff im horizontalen Sinne Versöhnung bedeutet. Mit anderen Worten, ein Muslim ist ein friedlicher Mensch, der Frieden unter den Menschen verbreitet. Da ergibt sich die Frage: Woher kommt das Ungleichgewicht in Bezug auf die vertikale und horizontale Dimension? Mit anderen Worten: Woher resultiert die übermäßige Beschäftigung der Muslime mit dem Jenseits und der direkten Beziehung zu Gott (vertikale Dimension), anstatt Tugenden mit den Menschen, der Umwelt, und dem Leben im Allgemeinen in Verbindung zu bringen (horizontale Ebene)?

Ist dies der Hauptgrund, warum Muslime, die seit Jahrhunderten dem Rat einer großen Zahl muslimischer Gelehrter folgen, eine passive Haltung gegenüber der realen Welt einnehmen und damit auch diese Welt aus den Augen verlieren? Er schließt dann: Ein Glaube, der auf dem bloßen Ausdruck von sechs Grundsätzen basiert, und der den Gläubigen fünf praktische Bedingungen (Grundlagen) des Islam auferlegt, und dem es an kritischem Denken, moralischen und ethischen Werten, Emotionen und konstruktivem Verhalten und Glauben fehlt, in dem der Mensch nicht im Mittelpunkt steht, hat sich in trockene Theologie verwandelt. Als der lebende Iman verschwand, wurde er durch rhetorischen Iman oder spekulative Theologie (Aqidah / Kelam) ersetzt. Akida definiert eine institutionelle, doktrinäre und ideologische Glaubensstruktur. Im Gegensatz dazu steht Iman, eine immer aktuelle individuelle Erfahrung.

Der Autor versucht, Antworten auf die obige Frage zu geben, indem er sich bemüht die Aufmerksamkeit der Muslime auf das Wichtigere und Bedeutsamere zu lenken, was Gott von uns verlangt, und das ist die Suche nach Gottes Allgegenwart auf einer horizontalen Ebene im täglichen Leben, in Aktivitäten verschiedener Art, Nächstenliebe und Solidarität. Mit anderen Worten, indem wir die Menschen und ihre Umwelt (diese Welt) in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen. In diesem Sinne interpretiert der Autor geschickt und mutig die Bedeutung des Gebets (Gebets) oder die zentrale Verbindung der muslimischen Gläubigen mit Gott, arbeitet die Verse aus, die sich auf das Gebet beziehen und zeigt seine horizontale Dimension durch vier Kriterien auf. Das Gebet ist nicht nur eine Verpflichtung gegenüber Gott, sondern auch ein Ausgangspunkt für den Betenden, der verstehen muss, dass das Gebet dies bewirkt und ihn verpflichtet, sich ständig um den Aufbau einer qualitativ hochwertigen Beziehung zu Menschen zu bemühen, die auf Solidarität, Freundlichkeit, Kultur und Liebe basiert. In diesem Zusammenhang bringt der Autor eine bemerkenswerte Interpretation der Sure Fatiha, genauer gesagt ihres letzten Teils.

Auf die Frage nämlich, wer auf dem richtigen Weg ist, und wer dagegen Gottes Zorn verdient und in die Irre gegangen ist, bietet er uns eine einfache und eindeutige Antwort aus dem Koran. In dieser imaginären Verbindung mit Gott glauben leider viele Muslime, die blind den interpretativen Ideologien muslimischer Gelehrter folgen, immer noch, dass Juden diejenigen seien, die den Zorn Gottes auf sich gezogen haben, die Christen seien diejenigen, die in die Irre gegangen sind. Imam Dr. Benjamin Idriz gibt uns eine einfache Antwort aus dem Koran (Al-Ana’am, 151-153), die natürlich diese unbegründete etablierte Interpretation der Fatiha zurückweist. All diejenigen, die den oben aufgeführten Tugenden (aufgelistet in den Versen 151-153 der Sure Al-Ana’am) nicht folgen, also diejenigen, die sich Gottes Geboten und Verboten widersetzten, sind keine Anhänger des rechten Wegs und erregen Gottes Zorn. Dabei betont der Autor, dass dieser Zustand unnabhängig von religiöser Zugehörigkeit eintreten kann.

In Bezug auf die Anordnungen und Verbote auf den folgenden Seiten erklärt der Autor, dass nur Gott die Befugnis hat, etwas für haram (streng verboten) zu erklären.

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