Ein muslimischer Kommentar zu Fratelli tutti

19. Dez 2021 | Dialog

IGP: Franziskus und der Sultan
Artikel von Gönül Yerli
Erschienen in der Zeitschrift „Grüne Reihe 121 – Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft“ im August 2021

Noch gut kann ich mich an jene Gefühlslage erinnern, als in den Abendnachrichten eines kühlen Frühlingstages des Jahres 2013, über die Fernsehbilder vermittelt, weißer Rauch aus dem Petersdom aufstieg und es hieß: Wir haben einen Papst! Der Argentinier Jorge Mario Bergoglio wurde als neues Oberhaupt der katholischen Kirche verkündet, zum ersten Mal sei ein nicht-europäischer Kardinal, ein Lateinamerikaner, zum Pontifex gewählt worden. Dann die traditionelle Loggia-Szene aus dem Petersdom: Ein greiser, einfacher Mann trat vor die jubelnde Menge. Ich sagte zu meinem Mann „der hat Nur (arab. für „Licht“) im Gesicht“, was im übertragenen Sinn Menschen gilt, die auf dem Weg Gottes wandeln. Bald darauf sollte die Welt erfahren, dass dieser Papst nicht in die Gemächer des Apostolischen Palasts einziehen, sondern das vergleichsweise schlichte Gästehaus des Vatikans vorziehen würde. Dass er auf das Papa-Mobil verzichtet und lieber einen unaufgeregten Kleinwagen zur Fortbewegung nutzen wird. Er schlägt mit Stilbruch auf, auch was seine Kleidung und die roten Pantoffeln betrifft – alles nicht mehr im Papst-Programm. Stattdessen wurde der gewählte Name „Franziskus“ zum Leitfaden. Erstmals in der Kirchengeschichte wagt es ein Papst aus dem Namen des Kleinen Armen aus Assisi ein Programm für eine Weltkirche im 21. Jahrhundert zu machen. Von da an war er auch „mein Papst“ und „meine Hoffnung“.

Ich bin mit Leib und Seele Muslima und weiß um die theologische Haltung, zumindest der sunnitischen Lehre, die die Institutionsform von höchster Autorität ablehnt, denn Gott allein ist der „Größte“ und „Höchste.“ Die Basis jeglichen Glaubens und auch Nicht-Glaubens trägt jedes Individuum selbst und damit auch die Verantwortung für Leben und Umwelt. Und dennoch hat es auch im Islam immer wieder Vorbilder gebraucht, die in Gestalt von Propheten, zuletzt durch Muhammad – Friede sei mit ihm –, als „Rechtleitung“ und „Ermahnung“ der Menschheit entsandt wurden. Das liegt nun über 1400 Jahre zurück. Wir müssen uns nichts vormachen, es hat auch in diesen Jahrhunderten Menschen gegeben, zu denen wir aufgeschaut haben, die bis heute Inspirationsquellen des Guten geblieben sind. Aktuell schmerzt die verbreitete Wahrnehmung von der muslimischen Welt. Die Bilder, die die Öffentlichkeit im Westen zu sehen bekommt, scheinen die deduktiven Denkmuster über einen rückschrittlichen Islam zu bestätigen, der geprägt sei von Gewalt, der Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen, mangelnder Bildung, schwacher Konjunktur, diktatorischen Regimen, Theokratien, kurzum einer Gesellschaftsordnung, von der wenig zu lernen wäre. Mit dem Bürgerkrieg in Syrien, der Gewaltherrschaft des sog. „I.S.“, dem internationalen Extremismus unter Berufung auf den Islam und zuletzt den Debatten um zunehmenden muslimischen Antisemitismus nehmen die Schreckensnachrichten aus der sogenannten „islamischen Welt“ kein Ende. Die muslimische Welt hat ein echtes Problem, glaubwürdig aufzutreten. Es klingt fast schon wie blanker Hohn, wenn erklärt wird, Islam bedeute Friede und Heil für alle Menschen.      

Natürlich schmeichelt es da, wenn unter all diesen Umständen die höchste christliche Autorität qua Inspiration einer muslimischen Seele zur Geschwisterlichkeit und zum weltumspannenden Frieden aufruft. Überhaupt nennt erstmals ein Papst einen führenden Vertreter des Islams in einer Enzyklika und meint damit den Großimam der Al-Azhar-Universität in Kairo, Ahmad Muhammad Al-Tayyeb. Die Begegnung der beiden geistlichen Führer fand Ende 2019 in Abu Dhabi statt, und das dabei unterzeichnete „Dokument über die menschliche Brüderlichkeit für Weltfrieden und Zusammenleben“ sollte wenig später in Fratelli tutti aufgegriffen werden.

„Die Botschaft meines Bruders Papst Franziskus ‚Fratelli tutti‘ ist eine Erweiterung des Dokuments über die menschliche Brüderlichkeit“, twitterte der Großimam nach der Veröffentlichung der Enzyklika. „Sie offenbart eine globale Realität, deren Positionen und Entscheidungen instabil sind. Es sind die verletzlichen und an den Rand gedrängten Menschen, die den Preis dafür zahlen.“ Papst Franziskus wende sich mit seinem Schreiben über Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft ausdrücklich an alle „Menschen guten Willen und lebendigen Gewissens“, so Al-Tayyeb. Er gebe der Menschheit damit ihr Gewissen zurück.  Beide kritisieren die weltweite ungerechte Verteilung der natürlichen Ressourcen, den Missbrauch der Religionen um Gewalt und Hass in der Welt zu verbreiten. Sie setzen auf wechselseitige Wirkung der Religionen, die nur im Dialog und im gemeinsamen Agieren zu finden sei. Denn „Der Westen könnte in der Kultur des Ostens Heilmittel für einige seiner geistigen und religiösen Krankheiten finden, die von der Vorherrschaft des Materialismus hervorgerufen wurden. Und der Osten könnte in der Kultur des Westens viele Elemente finden, die ihm hilfreich sind, sich von der Schwachheit, der Spaltung, dem Konflikt und vor dem wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Abstieg zu retten“.

Das Datum der Begegnung war kein Zufall. Die Leitfigur des Papstes, Franz von Assisi traf im Jahr 1219 am Rande der Kreuzzüge den Sultan von Ägypten Malik al-Kamil. 800 Jahre später ist es Papst Franziskus der 2019 nach Ägypten fliegt und an dieses historische Treffen erinnert. Es wird berichtet, dass es diese Begegnung war, die den Missionar Franz von Assisi dazu brachte einen Brief an die „Lenker der Völker“ zu richten. Beeindruckt von der Erfahrung des Gebetsrufs im Islam, schlägt er einen gemeinsamen Aufruf zum Gebet der Gläubigen vor, auch in seinen Lobpreisgebeten fallen die Ähnlichkeiten der Gottesnamen mit den 99 „Esma ul-Husna“, den „schönsten Namen“ Gottes, im Islam auf. Seinerzeit verkörperte Franziskus mit seiner Haltung gegenüber dem Islam ein deutliches Gegenbild zu der in Europa allgemein polemischen Rhetorik gegenüber den Muslimen, die schließlich die Kreuzzüge anheizen sollte. Sein Verhalten war geprägt von Offenheit und Interesse gegenüber der fremden Kultur und Religion, dass auch diese Menschen Gott „Lobpreis und Dank darbringen“ und von ihm geliebt werden. Er sieht den Islam weder als Häresie, noch als Sünde, sondern als eine andere Form der Gottesverehrung, die es zu respektieren gilt und gar dem eigenen Glauben Sinn und Stärke verleihen kann. Fast ein Jahrtausend musste vergehen, ehe ein ähnliches Zugehen für ein Dialogangebot auf christlicher Seite zu finden war. Einen wichtigen Schritt stellte dabei die Antrittsenzyklika von Papst Paul VI. von 1964 dar, in der er erstmals in einem lehramtlichen Dokument überhaupt das Wort „Dialog“ verwendete und den Dialog gar zum Wesensmerkmal der Kirche erklärte: „Die Kirche muss zu einem Dialog mit der Welt kommen, in der sie nun einmal lebt. Die Kirche macht sich selbst zum Wort, zur Botschaft, zum Dialog“. Am Ende des Konzils stand die „Erklärung über die Haltung der katholischen Kirche zu den nicht-christlichen Religionen“, Nostra Aetate, von 1965. Tatsächlich formuliert hier die katholische Kirche ein Novum ihrer Geschichte und stellt Grundsätze ihrer Haltung zu den anderen Religionen auf. Nun wird es Papst Franziskus zu Teil, das Vermächtnis des II. Vatikanischen Konzils in vollen Zügen aufzurollen.

Längst geht es nicht mehr um Respekt und Anerkennung gegenüber einer anderen Glaubenswahrheit, sondern darum wie alle in einem Verbund der Glaubenden der Weltgemeinschaft mit all ihren Krisenherden zur Seite stehen kann. Ganz in diesem Sinn folgt dem ökologischen Weckruf von Laudato si die gesellschaftliche Ermutigung Fratelli tutti. Der Stil ist von vielen persönlichen Reflexionen und Erfahrungen gespeist. Die Erfahrungen von Lateinamerika scheinen an vielen Stellen durch. Die Enzyklika ist eine kräftige Stimme, nicht bei materiellen und wirtschaftlichen Fragen anzusetzen, um Lösungen für die globale, gesellschaftliche Krise zu suchen, sondern sich auf ein humanes Weltbild zu besinnen. Im Dialog mit den Traditionen anderer Glaubenserfahrungen können Wege in eine solidarische und geschwisterliche Weltgemeinschaft gegangen werden, darauf setzt der Heilige Stuhl. Dabei formuliert er in einer so klaren und einfachen Sprache, dass es gerade diese Klarheit und Einfachheit ist, die viele von uns Fragen lässt: So easy? Kann Respekt vor der anderen Religion so einfach sein, kann Frieden wirklich gelingen, kann Glück ohne materialistischen Besitz empfunden werden? Können wir unsere Schöpfung mit der Mentalität „weniger ist mehr!“ retten? Auch wenn die Glaubensgemeinschaften selbst immer wieder hinter ihren auferlegten Maximen zurückbleiben oder in alte Verhaltensmuster zurückfallen, sind sie doch immer wieder daran zu erinnern und daran zu messen. Genau dazu fordert Papst Franziskus auf. Und ja, wenn Religionen für menschliche Werte stehen, für wahrhaftige Selbstlosigkeit, Solidarität, Nächstenliebe, Toleranz, gegenseitigen Respekt, Gewaltlosigkeit, Wahrheit, Vergebung und Barmherzigkeit, um es in einem Wort zusammenzufassen: „Menschlichkeit“ lehren, dann müssen sie sich glaubwürdig auf dieses Ziel hin verbünden. Papst Franziskus weist darauf hin, dass „Gleichgültigkeit“ gegenüber der Not anderer eine Seuche ist, die die Menschheit zerstört. Die meisten Menschen zögern, gegen die Leiden in der Gesellschaft aufzutreten. Er ruft dazu auf, Wohlwollen zu üben, das Wohl anderer und die Solidarität ernsthaft zu verfolgen und unter allen Umständen für Gerechtigkeit einzutreten. Wer wollte ihm da widersprechen?

Die Zeit der Globalisierung wächst in rasanten Tempo, mit den einhergehenden Begleiterscheinungen von pluralistischen Gemeinschaften ethnischer, religiöser und kultureller Herkunft. Jeden Tag interagieren wir mit Zugehörigen verschiedener Glaubensrichtungen, haben Nachbarn, Kollegen, Freunde. Wir erleben im täglichen Leben verschiedene Facetten diverser Glaubenssysteme. Es wäre weltfremd zu glauben, das Rad ließe sich zurückdrehen. Angesichts dieser neuen weltumgreifenden Situation braucht es einen gemeinsamen Strang, an dem wir ziehen. Sollten wir die Pandemie hinter uns gelassen haben, werden wir uns noch viele Jahre zurückerinnern, wie weder die Oster- oder Weihnachtszeit noch der Monat Ramadan in liebgewonnener Gemeinschaft und Tradition gefeiert wurden. Es hat alle Menschen gleichermaßen, jedweder Religion oder keiner Religionszugehörigkeit, getroffen. Es heißt gerade in den Krisen für die Zukunft zu lernen, die Augen vor Fehlentwicklungen auch in den Religionen zu erkennen. Hierzu ruft Papst Franziskus in aller Deutlichkeit in seiner Sozialenzyklika auf.

Für ihn sind Glaube und Politik keine Gegensätze. Ein verantwortungsvoll Glaubender steht mitten in dieser Welt und muss den Anspruch haben mitzugestalten. Das Friedenspotenzial der Religionen ist ureigen und meint über den Frieden (arab. Salam, hebr. Shalom) zwischen den Völkern hinaus ebenso den kosmischen Frieden, wie den seelischen Frieden jedes Einzelnen. Dass Religionen Frieden können, können sie spätestens jetzt unter Beweis stellen. Im gemeinsamen geistlichen Verbund, wie es am Schluss Papst Franziskus mit dem „Gebet zum Schöpfer“ formuliert, und in der tatkräftigen Interaktion einer wahrhaftigen Geschwisterlichkeit, ist es allemal einen Versuch wert. Würde ich den Autor von Fratelli tutti nicht kennen, würde ich meinen, es ist ein Muslim mit tiefem Geist und reflektiertem (theologischen) Wissen aus den islamischen Quellen. Es ist aber der Papst, der auch uns Muslimen Mut und Hoffnung macht!

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